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Wir in der Krise - Therapeut*innen im Gespräch - Frühlingsgefühle versus Krieg, Leid und Angst

Klimakrise, Krieg in Europa, Corona – unsere Zeit ist von Krisen geprägt, die wir noch vor einem Jahrzehnt in dieser Wucht nicht für möglich gehalten hätten. Hinzu kommen Fragen nach dem richtigen Leben – ist das überhaupt möglich im neoliberalen Kapitalismus mit wachsender Ungleichheit? "Wie viel Euphorie ist angemessen?", fragen wir zum Auftakt der neuen rbbKultur-Reihe die Psychologin Isabella Heuser.

rbbKultur: Frau Heuser, die Sonne, der nahende Sommer - das macht vielen richtig gute Laune. Das ist doch grundsätzlich gut für unsere Psyche, oder?

Isabella Heuser: Ja, auf jeden Fall ist das gut für unsere Psyche. Das ist eine wichtige Ressource, ein Quell von psychischem Wohlbefinden, den wir einfach brauchen, um schwere Zeiten zu durchstehen. Sie haben schon darauf hingewiesen: Wir kommen aus einer Pandemie, die sehr, sehr anstrengend war. Wir müssen die Klimakrise bewältigen. Wir haben jetzt eine Inflation und eben diesen schrecklichen Krieg in der Ukraine. Wir sind verunsichert. Und um das alles mehr oder weniger unbeschadet zu überstehen, brauchen wir eben auch gute Zeiten und gute Tage und sollten auf jeden Fall auch etwas haben, was uns Freude macht - wie zum Beispiel schlicht und ergreifend ein schöner sonniger Tag oder ein Abend im Biergarten.

rbbKultur: Wenn sich dann aber doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen meldet? Anderswo leiden Menschen und ich sitze im Biergarten rum … Kann ich mir das jetzt eigentlich erlauben? Was würden Sie raten?

Heuser: Man sollte kein schlechtes Gewissen haben, wenn man etwas genießt - wohl wissend, dass überall auf der Welt immer irgendetwas ist, was furchtbar ist, wo Menschen leiden. Wir können nicht das ganze Leid dieser Menschen auf unseren Schultern lasten - das kann nur Gott oder Jesus oder an wen oder was auch immer man glaubt. Wir müssen sehen, dass wir mit aller Kraft durch solch schwere Zeiten kommen. Und diese Kraft müssen wir aus den guten Tagen schöpfen. Sich ein schlechtes Gewissen zu machen, ist wirklich der falsche Weg.

rbbKultur: Das Wort "verdrängen" hat ja nun einen ganz schlechten Ruf. Aber muss man es nicht trotzdem manchmal tun - die Gedanken, Sorgen oder Ängste beiseiteschieben, um die eigene Widerstandskraft mit den guten Momenten zu stärken?

Heuser: Sie haben Recht: Verdrängen hat leider einen schlechten Ruf - obwohl wir als Psycholog:innen und Therapeut:innen sagen, dass es ganz gut ist, wenn man etwas verdrängen kann. Wir nennen das kompatibilisieren: Ein Gefühl oder einen schlechten Gedanken in eine Schublade stecken, diese vorübergehend schließen und dann bei entsprechender Gegebenheit durchaus auch wieder hervorziehen.

Wenn man verdrängt und sich mal etwas Gutes gönnt, bedeutet es nicht, dass man dann leichtfertig, empathielos oder eben gewissenlos ist. Es bedeutet, dass man eigentlich eine reife Art hat, mit seiner psychischen Energie und Ausstattung umzugehen.

rbbKultur: Und wenn wir jetzt umgekehrt schauen: Sollten Menschen, die sich vielleicht selbst als labiler oder ängstlicher wahrnehmen, vielleicht ganz bewusst versuchen, positive Situationen herzustellen und gerade in diesen Tagen raus in die Sonne gehen und dadurch Kraft tanken?

Heuser: Ja, unbedingt. Denn wir wissen, dass gerade Menschen, die zum Katastrophisieren oder zu einer erhöhten Ängstlichkeit neigen, die eher unsicher oder schüchtern sind, von solchen schlechten Nachrichten bzw. von solchen Großwetterlagen, die unangenehm oder bedrohlich sind, besonders betroffen sind. Diese Menschen sollten jetzt tatsächlich ganz bewusst mal einen schönen Abend gestalten, mit jemandem spazieren und unter Leute gehen, mit einem guten Freund zusammen sein und genießen.

rbbKultur: Diese Großwetterlage, die Krisen um uns herum und die Auswirkungen auf die Psyche: Spüren Sie das auch in Ihrer Arbeit? Haben Sie mit mehr Menschen zu tun, die darunter gerade leiden?

Heuser: Das ist zweifelsfrei so. Wie ich schon sagte: Wir kommen aus einer Pandemie heraus, die sehr erschöpfend war - besonders für Menschen, die Homeschooling und Homeoffice gemacht haben, für junge Familien zum Beispiel. Dann der Krieg in der Ukraine, die Inflation, die unsichere Weltlage insgesamt - das haben wir auf jeden Fall in unseren Anfragen nach Videosprechstunden bzw. nach Terminanfragen in unserer Ambulanz mitbekommen.

Das Gespräch führte Frank Meyer, rbbKultur. Es handelt sich um eine redigierte Fassung.

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