Sabine Bullrich, Psychotherapeutin © privat
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rbbKultur-Reihe: "Wir in der Krise - Therapeut*innen im Gespräch" - Wäre ein anderes Leben besser für mich?

Klimakrise, Krieg in Europa, Corona - unsere Zeit ist von Krisen geprägt, die wir noch vor einem Jahrzehnt in dieser Wucht nicht für möglich gehalten hätten. Diese Krisen stellen uns verstärkt - auf privater und gesellschaftlicher Ebene - vor die Frage nach dem richtigen Leben und lassen manche an sich selbst und der Art unseres Lebens zweifeln. Wie damit umgehen? Wäre ein anderes Leben vielleicht besser für mich? Darüber sprechen wir mit der Psychotherapeutin Sabine Bullrich.

rbbKultur: Frau Bullrich, wir haben eine Krisenzeit. Wenn Menschen in so einer Zeit an ihrem Lebensstil zweifeln, was ist grundsätzlich Ihr Rat, mit solchen Zweifeln umzugehen?

Sabine Bullrich: Man sollte die Zweifel ernst nehmen und sich fragen: Was sind denn die Wünsche? Was fehlt oder was möchte man gerne in seinem Leben haben? Wenn man etwas anders haben möchte, muss man etwas anders machen. Da geht leider kein Weg dran vorbei.

rbbKultur: Um ein paar Beispiele aufzufächern: Viele Geflüchtete sind in die Stadt gekommen. Sollte ich mich da vielleicht mehr drum kümmern? Oder was die Klimakrise angeht: Sollte ich nicht eigentlich nachhaltiger leben? Lauter Fragen, ob man nicht anders leben sollte. Aber vielleicht macht man es dann doch nicht und schwankt hin und her, hat ein schlechtes Gewissen und macht so weiter wie bisher. Was können Sie da empfehlen? Wie lebt man in so einer Situation am besten?

Bullrich: Grundsätzlich sind solche Fragen schon mal sehr gut. Sie regen dazu an, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und zu versuchen, es mitzugestalten. Eine Überlegung wäre: In was für einer Welt möchte ich gerne leben? Möchte ich in einer Welt leben, in der Hilfsbereitschaft existiert, wo sich die Menschen gegenseitig helfen? Und dann ist es nicht so abwegig, dass ich auch mal Hilfe anbiete.

Der andere Aspekt ist aber, dass leicht die Gefahr besteht, dass man sich übernimmt oder überschätzt. Kann ich jetzt jemanden bei mir in der Wohnung aufnehmen oder überfordert mich das? Das kriegt man auch durch viel Nachdenken nicht raus. Da wäre es ganz gut, mal ganz klein anzufangen - mal zum Bahnhof zu gehen und zu fragen, ob Hilfe benötigt wird oder ob ich spenden kann. Was kann ich gut machen, ohne dass ich einen Schaden nehme oder ohne dass ich mich da übernehme?

rbbKultur: Das höre ich auch von vielen: Ich würde gerne, aber ich habe Angst, ob ich das dann leisten kann ... Gerade im Umgang mit Geflüchteten, mit Menschen, die schwere Belastungen mit sich bringen: Mache ich dann vielleicht auch etwas falsch, was die Lage für sie noch verschlimmert? Ihr Rat wäre, erst einmal klein anzufangen und dann weiterzusehen, oder?

Bullrich: Ja, klein anfangen und mal probieren, wie es sich anfühlt, wie es mir damit geht und ob ich das gut leisten kann. Das Zweite ist, sich bei Leuten zu informieren, die das schon machen. Je mehr Information, desto besser.

rbbKultur: Aber wahrscheinlich wird ein Unsicherheitsgefühl bleiben, auch wenn ich es ausprobiert und vielleicht auch gute Erfahrungen gemacht habe … Wenn ich trotzdem noch unsicher bin: Würden Sie mir dann gerne einen Schubs geben und mir raten, über meinen Schatten zu springen? Oder raten Sie mir, meine Unsicherheit lieber ernster zu nehmen?

Bullrich: Die Unsicherheit wird nicht weggehen, bevor ich es nicht mache. Sie wird dann weggehen, wenn ich es gemacht habe. Aber es geht ja auch um Menschen: Man kann jetzt nicht jemanden bei sich zu Hause aufnehmen und dann nach drei Tagen sagen, dass das jetzt doch nichts für mich ist. Das will gut überlegt sein. Man kann zum Beispiel überlegen, was schlimmstenfalls passieren kann und wie wahrscheinlich das ist. Dann kann ich mir überlegen für den Fall, dass das Schlimmste eintritt: Kann ich das händeln, kann ich damit umgehen?

rbbKultur: Wenn wir mal in eine andere Richtung schauen: Wenn Menschen – zum Beispiel in einem bestimmen Alter, man spricht ja nicht umsonst von Midlife Crisis – sich die Frage stellen: Soll ich mein Leben ändern? Wäre ich glücklicher, wenn ich einen anderen Beruf hätte, in einem anderen Umfeld leben würde? Da ist das "klein anfangen" ja schwieriger ... Was empfehlen Sie in solchen Situationen?

Bullrich: Das mit dem "klein anfangen" ist nicht immer ausgeschlossen. Wenn man sich zum Beispiel selbstständig machen möchte, gibt es oft die Möglichkeit, einerseits halbtags zu arbeiten und die andere Hälfte schon mal mit der Selbstständigkeit zu beginnen. Es gibt die Möglichkeit, mal freiwillig oder ohne Bezahlung mitzuarbeiten oder mal eine Zeit lang an einem anderen Ort zu sein. Wenn das alles so möglich ist, würde ich dazu raten, das zu nutzen.

rbbKultur: Und wenn es nicht möglich ist?

Bullrich: Dann muss eine Entscheidung getroffen werden.

rbbKultur: Aus Ihrer psychotherapeutischen Perspektive: Wie kann man solche Entscheidungen gut treffen?

Bullrich: Das ist ein Prozess, man geht eine Zeitlang in sich. In der Psychotherapie geht es ja um die Innenwelt, und das andere ist eben die Außenwelt. Man muss sich ein bisschen beobachten: Wo geht es mir gut? Wo geht es mir nicht so gut? Ein wesentlicher Hinweis ist auch die Energie: Wenn ich eine Arbeit mache, bin ich danach todmüde oder bin ich danach vitalisiert? Das ist dann ein Zeichen dafür, dass es meins ist.

rbbKultur: Interessanterweise haben Sie selber vor kurzer Zeit eine Entscheidung getroffen: Sie haben Ihre Praxis im Allgäu aufgegeben, sind nach Berlin gezogen und haben hier quasi neu angefangen - in Ihrem Beruf, aber doch in einem anderen Arbeitsumfeld. Wie lange haben Sie denn da überlegt? Sie hatten doch wahrscheinlich auch Zweifel?

Bullrich: Ich hatte auch Zweifel und es war ein langer Prozess. Ich hatte meine Tochter dort und hätte nicht einfach so umziehen können. Die Praxis hat mir Freude gemacht und das wollte ich auch nicht aufgeben. Dann war ich aufmerksam für den richtigen Zeitpunkt und dachte: Jetzt könnte ich das mal probieren. Ich habe meine Kassenzulassung abgegeben, meine Praxis aufgegeben und natürlich auch gute Freunde zurückgelassen. Mit meinem Mann führe ich jetzt eine Fernbeziehung. Es war kein ganz großes Risiko, weil ich schon zurückgehen könnte - aber ich hatte trotzdem große Ängste.

Jetzt bin ich schon einige Monate hier und bin reich belohnt. Ich fühle mich hier herzlich willkommen und es tun sich neue Türen auf. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich es gemacht habe.

rbbKultur: Sie sagten, Sie hielten Ausschau nach dem richtigen Zeitpunkt. Was hat angezeigt, dass der richtige Zeitpunkt jetzt da ist?

Bullrich: Das ist auch eine Gefühlssache, dass man meint, diesen Mut jetzt aufbringen zu können. Auch mein Mann hat mich ermutigt und gesagt, dass er damit einverstanden ist. Das muss man ja auch mit seinen Angehörigen absprechen.

rbbKultur: Diese Zweifel, die ich angesprochen habe: Ob man eigentlich im richtigen Leben lebt und ob man nicht grundsätzlich etwas ändern sollte - wann treten diese Ihrer Erfahrung nach auf? Werden diese Zweifel vor allem von äußeren Umständen angeschoben - wenn es um einen herum unsicherer wird bzw. wenn man sich unsicherer fühlt mit sich selbst? Was triggert diese Zweifel?

Bullrich: Ich denke, das kann beides sein. Krisensituationen, wie sie sich ja derzeit häufen, können so einen Anstoß geben, und auch veränderte Lebensbedingungen wie der Lockdown in der Pandemie, wo man auf sich geworfen war, sehr viel mehr Zeit hatte oder die Lebensbedingungen anders waren. Oder aber auch innere Krisen ab dem mittleren Alter, das Älterwerden, Schwellensituationen, die Gründung einer Familie, der Berufsanfang, in Rente gehen oder aber auch schwere Erkrankungen.

rbbKultur: Stichwort Älterwerden: Wenn man sieht, dass das Leben nicht mehr endlos ist und dass man, wenn man noch einen Traum hat und sich den erfüllen möchte, irgendwann mal anfangen muss damit ... Das beschleunigt wahrscheinlich auch diese Überlegung: Mache ich es jetzt mal?

Bullrich: Genau. Wichtig ist, dass die Überlegung getroffen wird. Ich denke, man muss es nicht unbedingt machen. Es wäre auch in Ordnung, wenn man zu dem Schluss kommt: Nein, das lasse ich jetzt lieber, auf so etwas lasse ich mich jetzt nicht mehr ein! Aber es kann auch ein guter Anstoß sein, es zu wagen.

Das Gespräch führte Frank Meyer, rbbKultur. Es handelt sich um eine redigierte Fassung.

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