Menschen entspannen in der Mittagssonne am Spreebogen im Regierungsviertel in Berlin © dpa/photothek.net/Florian Gaertner
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Die Debatte mit Natascha Freundel, Omri Boehm und Navid Kermani - Wer ist "Wir"? Und wer nicht?

"Das Wir ist sehr wichtig. Aber nicht als Grundlage unserer Normen." (Omri Boehm)

"Für wahre Universalisten sollte das "Wir" nie der Beginn von Politik sein; es kann lediglich ihr niemals endgültiges Resultat sein", so schreibt der Philosoph Omri Boehm in seinem Buch "Radikaler Universalismus", das jede Identitätspolitik und jede interessengeleitete Realitätspolitik herausfordert.

Wer nach dem "Wir" sucht, macht es sich womöglich zu leicht, indem er oder sie sich in einer Konsens-Gemeinschaft einrichtet und aus dem Blick verliert, wer nicht zu diesem "Wir" gehört – die "Anderen", mit deren Ausschluss oder gar auf deren Kosten "Wir" leben.

Auch der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani plädiert für einen kosmopolitischen Humanismus. Für eine Besinnung auf den metaphysischen Begriff der Menschenwürde. "Absolute Liebe zur Menschheit", wenn diese Menschheit ihre Lebensgrundlagen zerstört? Unbedingt, sagt Boehm, denn Dehumanisierung führe zum Tod der Natur.

Ein Gespräch über das Paradox im Grundgesetz, über die Vorstellungskraft von Kindern und über "Hoffnung bis zum letzten Atemzug" (Kermani).

Wiederholung vom 10.11.2022.

In einem politischen Rahmen ist das Wir letztendlich wirklich statthaft oder erst universell, wenn es überhaupt niemanden ausschließt. Aber - und auf diese Pointe sollten wir auch achten - wenn es nur dieses eine Wir gäbe, das wir anstreben sollten in unserem Denken, dann gäbe es keine Kultur. Kultur es entsteht ja genau aus der Unterscheidung. Kultur entsteht genau dadurch, dass wir anders sind als die. In diesem Anderssein, was eigentlich unsere ganze Schönheit, unseren Reichtum ausmacht, ist eben im politischen Raum eine große Gefahr. Eigentlich gilt es, beides gleichzeitig zu bewahren, unser Anderssein und unser gemeinsames Wir. Und da sind wir natürlich auch wieder zurück bei der Religion, bei diesem Gedanken: vor Gott, also vor einer übergeordneten Instanz, sind alle gleich. Als Menschen sind wir hoffentlich alle sehr, sehr verschieden und durchaus auch in Kollektiven verschieden.

Navid Kermani

Das Wir ist wichtig. Aber wenn man seine Politik auf das Wir reduziert, wer wird dann die Entscheidung treffen, wer überlebt und wer nicht? Ausgehend von Interessen und nicht ausgehend von einem bestimmten absoluten ethischen Anspruch. Damit wiederholen wir die Aussage Kains: Soll ich meines Bruders Hüter sein? Dieser vermeintlich abstrakte Punkt ist schon heute wichtig, besonders aber auch für die Zukunft, wenn wir sehen, dass Probleme nicht lokal sind. Das Wir war vielleicht gut, als man bestimmte nationale Identitäten festlegen wollte. Doch wenn wir heute über globale Probleme nachdenken und zu verstehen beginnen, dass einige Menschen in unserer Welt zurückbleiben werden, dann muss das Konzept des Wir überdacht werden: Werden wir diese Entscheidungen treffen?

Omri Boehm
Navid Kermani (© Bogenberger) und Omri Boehm (© Neda Navaee)
Navid Kermani und Omri Boehm | Bild: Bogenberger | Neda Navaee

Gäste

Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, ist habilitierter Orientalist und lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, 2015 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels. "Wer ist Wir" fragt Kermani schon in seinem Buch über "Deutschland und seine Muslime" (200). Bei C.H.Beck erschienen darüber hinaus u.a. "Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa" (2016), "Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan" (2018) und "Morgen ist da. Reden" (2019) sowie "Was jetzt möglich ist. 33 politische Situationen" (2022). Bei Hanser erscheint sein literarisches Werk, darunter in diesem Jahr sein Jugendbuch: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott".

Omri Boehm, geb. 1979 in Haifa (Israel), ist Associate Professor für Philosophie und Chair of the Philosophy Department an der New School for Social Research in New York. Er studierte in Tel Aviv und promovierte in Yale über Kants Kritik an Spinoza. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u.a. in München und Berlin geforscht und schreibt über israelische Politik und die Antisemitismus-Debatten in Haaretz, Die Zeit und The New York Times. 2020 erschien sein viel diskutiertes Buch "Israel – eine Utopie", 2022 sein Buch "Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität" (beide Propyläen).

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Hier wird nicht nur debattiert, hier wird auch zusammen nachgedacht. Über alles, was unser Miteinander betrifft. Bildung, Digitalisierung, Demokratie, Einsamkeit, Freiheit, Klima, Kultur, Städtebau, Visionen - die Themen liegen in der Luft, nicht erst, aber besonders deutlich seit der Corona-Pandemie. Jede Folge widmet sich einer Frage unserer Zeit. rbbKultur-Redakteurin Natascha Freundel spricht jeweils mit zwei Gästen, die wissen, wovon sie reden. Philosophisch, aber nie abgehoben. Persönlich, aber nicht privat. Kritisch und konstruktiv. Hier soll es nicht knallen, sondern knistern. Immer auf der Suche nach dem zweiten, neuen Gedanken.

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1 Kommentar

  1. 1.

    Wunderbare Sendung, danke. Ich habe meine Arbeit pausiert, musste gespannt dem Gespräch zuhören. Beide, Herr Kermani und Herr Boehm, sind aussergewöhnliche Menschen, wir brauchen mehr von diese Art, um unsere Welt zu retten. Chapeau an die Moderatorin, sie hatte sehr gute, feinfühlige Fragen. Danke!