Bundeskanzler Scholz und Präsident Putin in Moskau © Kay Nietfeld/dpa
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Die Debatte mit Natascha Freundel, Irina Prochorowa und Thomas Urban - Russland und die deutsche Ostpolitik

"Es würde bedeuten, gegen sich selbst Krieg zu führen." Irina Prochorowa

Für den 16. Februar 2022 hatten US-Geheimdienste prognostiziert, dass Russland die Ukraine großflächig angreifen würde. An diesem Vormittag haben wir mit einer Leitung nach Moskau und nach Warschau über die russische Gesellschaft und die deutsche Ostpolitik debattiert. Irina Prochorowa, eine der namhaftesten Intellektuellen Russlands, sagte damals zur Kriegsgefahr: "Wir wissen sehr gut, wie Tschechow sagte: Wenn ein Gewehr an der Wand hängt, wird im dritten Akt damit geschossen. Wenn am 16. Februar nichts losgeht, heißt das nicht, dass es keinen Krieg geben kann. Deshalb müssen wir uns weiter gegen Krieg einsetzen."

Prochorowa und Urban erinnern an die entscheidende Rolle der Dissidenten für den Fall des Eisernen Vorhangs. Demokratien hätten es aber versäumt, daraus ein neues Wertesystem zu entwickeln.

Ein Jahr später ist dieses Gespräch ein historisches Dokument. Die aktualisierenden Zitate stammen aus dem Buch von Gwendolyn Sasse: "Der Krieg gegen die Ukraine" (C.H. Beck Wissen 2022).

Mir scheint, was fehlt und was getan werden muss, ist eine Neubetrachtung des Widerstands gegen totalitäre Regime in Europa. Gerade wenn wir diese radikalkonservativen Wendungen sehen, wenn reaktionäre Menschen an die Macht kommen, Reste des alten Establishments aus kommunistischen Zeiten. Genau dann ist es so wichtig, den Prozess der Umwertung der Werte zu verstehen.

Irina Prochorowa

In der deutschen Gesellschaft ist eine romantische Narration von Ostpolitik sehr verbreitet. Was hat denn aus der Sicht der damaligen Parteiführung zur Auflösung des Sowjetblocks geführt? Das war nicht die Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs, sondern das war die Rüstungsspirale, die die USA unter Ronald Reagan eingeleitet hatten. Die sowjetischen Geheimdienste KGB und GRU erkannten sehr schnell, dass die sowjetische Rüstungsindustrie da nicht mithalten kann. Hinzu kam der wirtschaftspolitische Druck, den die USA gemeinsam mit Saudi-Arabien wegen des Afghanistan-Kriegs auf die Sowjetunion ausübten. Es wurde nämlich der Weltmarkt mit Erdöl überschwemmt, die Preise brachen ein, die Sowjetunion bekam nicht mehr genügend Devisen, um ihr Imperium aufrechtzuerhalten. Der zweite Faktor war die Auflösung des Ostblocks von innen heraus. Michail Gorbatschow hat geschrieben: Ohne die Solidarnosz hätte sich der Ostblock nicht aufgelöst.

Thomas Urban
Irina Prochorowa (© Mikhail Prokhorov Fund) und Thomas Urban (© E. Mormul)
Bild: Mikhail Prokhorov Fund | E. Mormul

Gäste

Irina Prochorowa,

geboren 1956 in Moskau, ist Kulturhistorikerin, Literaturkritikerin und eine der namhaftesten Intellektuellen Russlands. Sie leitet den Verlag: "Nowoje literaturnoe obosrenije"/"New Literary Observer". 2003 erhielt sie den unabhängigen amerikanischen Freiheitspreis für ihren Beitrag zur Entwicklung der russisch-amerikanischen Kulturbeziehungen. Sie ist Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres (Frankreich, 2005) sowie Preisträgerin des Andrej-Belyj-Preises für Literatur (2006). 2012 unterstützte sie ihren Bruder Michail Prochorow im Präsidentschaftswahlkampf. 2004 wurde sie Mitbegründerin der Michail-Prochorow-Stiftung, die vor allem die Kultur der russischen Regionen unterstützt. Eine aktuelle Gesprächsanfrage lehnte sie ab und verwies auf Druck von Seiten des Regimes. Sie hofft, dass vollwertige internationale Beziehungen in Kultur und Politik wiederhergestellt werden können, wenn Frieden herrschen wird.

Thomas Urban,

geboren 1954 in Leipzig, war 24 Jahre lang Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, mit Stationen in Warschau, Moskau und Kiew. Ab 2012 war er SZ-Korrespondent in Madrid. Er hat Kriegsschauplätze in Abchasien, Karabach, Moldawien und Tschetschenien bereist. Während seines Studiums der Slawistik und Romanistik in Köln war Urban Mitarbeiter am Institut des Sowjetdissidenten Lew Kopelew. Er verfasste zwölf Bücher zur osteuropäischen Zeitgeschichte sowie über russische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, darunter Nabokow, Ehrenburg, Gasdanow, Pasternak und Agejew. Sein Buch "Verstellter Blick“ ist eine Analyse von Fehleinschätzungen der deutschen Ostpolitik (edition fototapeta, 2022). Urban lebt unweit von Warschau.

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2 Kommentare

  1. 1.

    Wann genau ist dieses Gespräch aufgezeichnet worden? Da fehlt mir leider die Information dazu? Danke!