Die Debatte mit Natascha Freundel, Irina Prochorowa und Thomas Urban -
"Es würde bedeuten, gegen sich selbst Krieg zu führen." Irina Prochorowa
Für den 16. Februar 2022 hatten US-Geheimdienste prognostiziert, dass Russland die Ukraine großflächig angreifen würde. An diesem Vormittag haben wir mit einer Leitung nach Moskau und nach Warschau über die russische Gesellschaft und die deutsche Ostpolitik debattiert. Irina Prochorowa, eine der namhaftesten Intellektuellen Russlands, sagte damals zur Kriegsgefahr: "Wir wissen sehr gut, wie Tschechow sagte: Wenn ein Gewehr an der Wand hängt, wird im dritten Akt damit geschossen. Wenn am 16. Februar nichts losgeht, heißt das nicht, dass es keinen Krieg geben kann. Deshalb müssen wir uns weiter gegen Krieg einsetzen."
Prochorowa und Urban erinnern an die entscheidende Rolle der Dissidenten für den Fall des Eisernen Vorhangs. Demokratien hätten es aber versäumt, daraus ein neues Wertesystem zu entwickeln.
Ein Jahr später ist dieses Gespräch ein historisches Dokument. Die aktualisierenden Zitate stammen aus dem Buch von Gwendolyn Sasse: "Der Krieg gegen die Ukraine" (C.H. Beck Wissen 2022).

Irina Prochorowa,
geboren 1956 in Moskau, ist Kulturhistorikerin, Literaturkritikerin und eine der namhaftesten Intellektuellen Russlands. Sie leitet den Verlag: "Nowoje literaturnoe obosrenije"/"New Literary Observer". 2003 erhielt sie den unabhängigen amerikanischen Freiheitspreis für ihren Beitrag zur Entwicklung der russisch-amerikanischen Kulturbeziehungen. Sie ist Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres (Frankreich, 2005) sowie Preisträgerin des Andrej-Belyj-Preises für Literatur (2006). 2012 unterstützte sie ihren Bruder Michail Prochorow im Präsidentschaftswahlkampf. 2004 wurde sie Mitbegründerin der Michail-Prochorow-Stiftung, die vor allem die Kultur der russischen Regionen unterstützt. Eine aktuelle Gesprächsanfrage lehnte sie ab und verwies auf Druck von Seiten des Regimes. Sie hofft, dass vollwertige internationale Beziehungen in Kultur und Politik wiederhergestellt werden können, wenn Frieden herrschen wird.
Thomas Urban,
geboren 1954 in Leipzig, war 24 Jahre lang Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, mit Stationen in Warschau, Moskau und Kiew. Ab 2012 war er SZ-Korrespondent in Madrid. Er hat Kriegsschauplätze in Abchasien, Karabach, Moldawien und Tschetschenien bereist. Während seines Studiums der Slawistik und Romanistik in Köln war Urban Mitarbeiter am Institut des Sowjetdissidenten Lew Kopelew. Er verfasste zwölf Bücher zur osteuropäischen Zeitgeschichte sowie über russische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, darunter Nabokow, Ehrenburg, Gasdanow, Pasternak und Agejew. Sein Buch "Verstellter Blick“ ist eine Analyse von Fehleinschätzungen der deutschen Ostpolitik (edition fototapeta, 2022). Urban lebt unweit von Warschau.
2 Kommentare
Sehr geehrter Herr Wulke,
das Gespräch wurde am 16.2.2022 aufgezeichnet.
Beste Grüße aus der Redaktion
Wann genau ist dieses Gespräch aufgezeichnet worden? Da fehlt mir leider die Information dazu? Danke!