Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian © Berlinale
Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian | Bild: Berlinale

- Kino ohne Komfortzone

Das neue Leitungsduo der Berlinale spricht mit Natascha Freundel über Kino als kollektive Kunst, über starke Frauen, Coming Out und queere Liebesgeschichten im Festivalprogramm, über den Eröffnungsfilm "My Salinger Year", über Berlin als Filmstadt und warum Berlin nicht Los Angeles ist, sondern "eine Stadt der anderen Engel".

rbbKultur: Nach 18 Jahren Dieter Kosslick führen Sie - Mariette Rissenbeek - als erste Frau die Geschäfte der Berlinale. Zuletzt haben Sie sich als Geschäftsführerin von German Films um die internationale Vermarktung deutscher Produktionen gekümmert. Was zeichnet die Berlinale aus?

Rissenbeek: Für mich ist die Berlinale deshalb einzigartig, weil es eine enge Verbindung zwischen dem Publikumsfestival mit fast einer halben Million verkaufter Tickets und der Branchenveranstaltung gibt. Weder in Cannes noch in Venedig gibt es so einen großen Publikumszuspruch. Diese Wechselwirkung zwischen Publikum und Festival ist wirklich etwas ganz besonders in Berlin.

rbbKultur: Carlo Chatrian, Sie dürfen sich als künstlerischer Direktor der Berlinale auf die Filme selbst konzentrieren. Sie sind vom Filmfestival Locarno nach Berlin gewechselt. Von Locarno im August nach Berlin im Februar. Gibt es dennoch Gemeinsamkeiten?

Chatrian: Aus einem Dorf, das eine Festivalstadt geworden ist, bin ich in eine Großstadt mit einem Filmfestival gekommen. Das ist ein großer Sprung. Aber es gibt ein gemeinsames Element: das Publikum. Die Verbindung mit dem Publikum gefällt mir am besten. Die Vermittlung der Gefühle, die wir beim Betrachten eines Films hatten, an das Publikum. Dass wir das in einer so lebendigen, modernen Stadt wie Berlin tun können, ist besonders aufregend.

rbbKultur: Nun ist die erste Berlinale unter ihrer Leitung zugleich die 70. Ausgabe des Festivals, und prompt werden Sie mit der dunklen Vergangenheit des ersten Berlinale Chefs Alfred Bauer konfrontiert. Bauer - 25 Jahre lang Festivalleiter - war ein eifriger SA Mann, Mitglied der NSDAP und ab 1942 Referent der Reichsfilmintendanz des Joseph Goebbels. Wie überraschend kam diese Nachricht für sie?

Rissenbeek: Für mich kam die Nachricht sehr überraschend. Wir hatten uns seit dem Juni 2019 mit so vielen Themen beschäftigt, aber mit der Vergangenheit des Festivals und der Frage "Wer ist Alfred Bauer" haben wir uns vorher nicht beschäftigt.

rbbKultur: Zeitgleich zum Jubiläum der Deutschen Kinemathek sollte eine Broschüre zu Alfred Bauer auf der Berlinale präsentiert werden. Das ist gestoppt worden. Muss die Geschichte der Berlinale umgeschrieben werden?

Chatrian: In der Schule habe ich gelernt, dass Geschichte immer wieder neu erzählt werden muss, weil wir uns verändern und unseren Blick auf uns und unsere Geschichte. Wir möchten die Nachrichten als Gelegenheit ergreifen, die Zeit vor der Berlinale genauer zu betrachten. Andererseits glaube ich, dass die Geschichte der Berlinale von den Filmen und Filmemachern bestimmt wird. Die Rolle der Festivalleiter wird von der Presse manchmal überbewertet. Entscheidend sind die Filme, die bei der Berlinale gezeigt wurden, und sie erzählen von Freiheit.

rbbKultur: Es ist interessant, dass zunehmend Duos Regie führen in neuen Filmproduktionen. Das zeigt sich auch im Festival. Ist das ein neuer Trend im Filmgeschäft, dass das Kollektiv eine größere Rolle spielt als das einzelne "Genie"?

Chatrian: In unserem "Berlinale Talents"-Programm geht es um das Kollektiv und wir beginnen darüber nachzudenken, dass wir dem “Genie” des Filmemachers vielleicht zu viel Aufmerksamkeit schenken. Regisseure sind sehr wichtig, aber das Ergebnis eines Films ist das Ergebnis einer kollektiven Arbeit. Man kann einen Film nicht alleine machen. Im Wettbewerb haben wir vier Filme, die von einem Duo gemacht wurden. Ich glaube, ein Filmfestival sollte all das zeigen. Wir haben die Seite des Glamours, die Stars, die Regisseure, und gleichzeitig haben wir die Chance, diejenigen ins Licht zu stellen, deren Arbeit nicht immer anerkannt wird.

rbbKultur: Es ist jetzt ungefähr zweieinhalb Jahre her, dass die MeToo-Bewegung ein ganz neues Licht auf die Filmbranche geworfen hat. Auf Machtverhältnisse, auf männlichen Machtmissbrauch im Filmgeschäft. Hat sich ihr Blick auf ihr eigenes Metier durch die MeToo-Kampagne verändert?

Rissenbeek: Sicher hat man in der Vergangenheit schon mal gehört von dem einen oder anderen Mann, Produzent, der möglicherweise seine Macht hat spielen lassen. Das ist nichts Neues gewesen, auch das Wort "Besetzungscouch" nicht. Dass die Gesellschaft heute anders damit umgeht und das jetzt Machtmissbrauch nennt, ist eine Errungenschaft. Der Blick hat sich verändert und es gibt eine größere Sensibilität in der Öffentlichkeit, was dazu führt, dass sich mehr Frauen mit ihren Erlebnissen herauswagen. Früher hat man sich vielleicht eher geschämt und gedacht, ich bin auch ein bisschen mit schuld, weil ich mich falsch verhalten hab oder nicht eindeutig Grenzen gezogen habe.

rbbKultur: Die MeToo-Bewegung ist also eine wichtige, eine notwendige Bewegung, Carlo Chatrian?

Chatrian: Grundlegend ist diese Aufmerksamkeit, die sich in der ganzen Filmindustrie ausgebreitet hat. Aufmerksamkeit ist der erste Schritt zur Veränderung. Wir haben im Festival den Film "The Assistant" ("Die Assistentin") von Kitty Green, der sich eindeutig auf diese toxische Umgebung bezieht, die Frauen vor allem in der Filmindustrie vorfinden. Ich persönlich finde es noch wichtiger, wenn ein Film das Thema nicht direkt aufgreift. Wenn man das Problem auf eine einzelne Situation, auf ein einzelnes Büro reduziert, distanziert man sich zugleich davon. Wenn es jede Frau oder jeden Mann betrifft, dann wirkt es stärker. Die Wettbewerbfilme "El Prófugo" ("Der Eindringling") oder "Never Rarely Sometimes Always" ("Niemals Selten Manchmal Immer") finde ich da wirkungsvoller, weil sie meinen männlichen Blick verändern und mich in die Rolle der Frau hineinversetzen wollen.

rbbKultur: Dennoch haben Sie Jeremy Irons zum Jurypräsidenten gewählt. Er wurde wegen früherer sexistischer und homophober Äußerungen schnell als "alter, weißer Mann mit reaktionären Ansichten" kritisiert. Tut man ihm Unrecht?

Chatrian: Ich glaube, ein Künstler drückt sich durch seine Arbeit aus. Als wir Jeremy Irons auswählten, dachten wir an die Filme, in denen er gespielt hat, statt an die dummen Sätze, die er vor Jahren gesagt hat. Wenn ich mir seine Filme ansehe, bekomme ich ein anderes Bild. Er hat viele sehr offene Rollen gespielt, Rollen mit unscharfen Geschlechtergrenzen. Ich verstehe, dass die Sätze, die er gesagt hat, Gefühle verletzen können. Aber uns ist auch bewusst, dass er seine Worte bereut.

rbbKultur: Im Festivalprogramm gibt es sehr starke Frauenfiguren, etwa in "Kokon" von Leonie Krippendorff über das Coming Out eines jungen Mädchens in Kreuzberg oder in "Pari" über eine Iranerin, die in der Anarchistenszene von Athen nach ihrem verschwundenen Sohn sucht. "Hoffnung", ein norwegisch-schwedischer Film, zeigt die Mutter einer Patchworkfamilie, die plötzlich unheilbaren Hirntumor hat. Hat die Zeit der Frauen im Film, die unabhängig sind von männlicher Anerkennung, gerade erst begonnen?

Rissenbeek: Die Entwicklung starker Frauenfiguren hat schon etwas früher begonnen. Carlo hat in anderen Interviews bereits gesagt, dass Sigourney Weaver für ihn eine Persönlichkeit ist, die durch ihre Rolle in "Aliens" komplett das Frauenbild im Film verändert hat. Wir freuen uns sehr, dass sie zum Eröffnungsfilm des Festivals anreisen wird.

rbbKultur: Der Eröffnungsfilm "My Salinger Year" ist eine kanadisch-irische Produktion des Drehbuchautors und Regisseurs Philipp Falardeau. Warum haben Sie diesen Film ausgewählt?

Chatrian: Wir wollten das Festival mit einem frischen Film eröffnen. Mit Sigourney Weaver haben wir eine große Frau, einen großen Star. Aber im Mittelpunkt steht eine junge Frau, gespielt von Margaret Qualley. Der Film verfolgt die Hoffnung eines jungen Menschen, der von einem Ort zu einem anderen umzieht. Wir möchten eine Geschichte zeigen, die eine weibliche Perspektive hat und die mit unserer künstlerischen Tätigkeit verbunden ist. Im Film geht es auch darum, dass Kunst ein verbindendes Mittel sein kann, von allen geteilt werden kann und dass jeder und jede einen Künstler, eine Künstlerin in sich trägt. Ich finde, das ist eine sehr gute Boschaft.

rbbKultur: Liegt Ihr Fokus im Programm etwas mehr auf den persönlichen Geschichten? Dieter Kosslick hat immer betont, dass die Berlinale ein sehr politisches Festival ist.

Chatrian: Kino sollte nur am Beispiel einer persönlichen, individuellen Geschichte politisch sein. Genau das sagte auch Dieter Kosslick vergangenes Jahr, mit dem für mich sehr schönen Motto: "Das Private ist politisch." Es ist schön, wie unser Programm aufgenommen wird, denn wir haben eine Reihe von Filmen zusammengestellt und liefern dieses Programm, und das Beste, was passieren kann ist, dass jeder Betrachter daraus seine eigene Interpretation hat. Deshalb mag ich Kino.

rbbKultur: Das Festival geht auch sehr stark der Frage des Coming Out nach, des Begehrens, der Orientierung. Eine Entwicklung des gegenwärtigen Autorenkinos?

Chatrian: Die Frage nach der Identität, der eigenen Vorstellung und Präsentation ist wahrscheinlich eines der zentralen Themen unserer Zeit, in unserer Gesellschaft. Das spiegelt sich im Kino wider. Wir haben viele Filme, die dieses Thema behandeln. Nicht nur im "Panorama". Ich glaube, in Berlin gibt es im Publikum dafür eine Offenheit, die es vielleicht anderswo nicht gibt. Für uns ist das eine Möglichkeit, aber auch eine Ermutigung, uns noch mehr zu trauen.

rbbKultur: Sie haben das Programm der Berlinale verschlankt, indem Sie sich beispielsweise von der Sektion "Kulinarisches Kino" verabschiedet haben. Zugleich haben Sie einen zweiten Wettbewerb eingeführt, "Encounters", in dem 15 Filme konkurrieren. Weshalb?

Chatrian: Wir nennen "Encounters" ungern den "zweiten Wettbewerb", lieber "einen anderen Wettbewerb". Die Filme, die hier laufen, sind Unikate. Sie repräsentieren für uns, was mit kinematographischen Mitteln auf neue Weise getan werden kann. Es sind Filmemacher dabei, die schon bei der Berlinale waren: Heinz Emigholz, Ivan Ostrochovský – ihre neuen Filme aber haben uns ziemlich überrascht. Wir haben dieses Programm eingeführt, weil wir glauben, dass Kino mit der Umstellung von Analog zu Digital viel fluider geworden ist, viel freier. Und wir wollten einen Wettbewerb ohne den Druck um den Goldenen Bären.

rbbKultur: Sprechen wir über den deutschen Film. Mariette Rissenbeek, Sie kennen das deutsche Kino und seine Vermarktung in die weite Welt sehr gut. Bei dieser Berlinale sind einige deutsche Produktion dabei. Liegt es daran, dass Sie von German Films kommen? Oder ist der deutsche Film gegenwärtig so stark aufgestellt?

Rissenbeek: Seit einigen Jahren hat sich der deutsche Film sehr vielfältig entwickelt und man kann mittlerweile aus Deutschland sehr unterschiedliche Filmformen vorfinden. Als Carlo in Locarno Festivaldirektor war, habe ich ihm zwei Mal im Jahr deutsche Filme vorgestellt. Daher können wir uns über deutsche Filme gut verständigen. Und mit Linda Söffker, die die "Perspektive Deutsches Kino" kuratiert, hat die Berlinale eine sehr fähige und erfahrene Person und gute Botschafterin für den deutschen Film.

rbbKultur: Nicht nur Deutschland, sondern ganz konkret Berlin spielt eine wichtige Rolle in vielen Filmen, nicht nur im Wettbewerb. Mit jährlich ungefähr 4.000 Drehterminen kommt einem Berlin längst abgedreht vor. Aber offenbar ist das nicht der Fall?

Chatrian: Wir sind sehr glücklich, Filme gefunden zu haben, die Berlin nicht nur als Set benutzen, sondern als eine Filmfigur. "Undine", "Berlin, Alexanderplatz" und "Schwesterlein", sie alle schaffen das Portrait einer vielgesichtigen Stadt. Das Programm der 70. Berlinale sollte die Stadt Berlin ins Zentrum stellen, schließlich trägt die Berlinale den Namen der Stadt schon im Titel. Einwohner aus einem Berliner Kiez können Filme in ihrem Kiez sehen und dabei erleben, wie andere Menschen ihre Stadt auf andere Weise zeigen. Das ist doch sehr aufregend. 

rbbKultur: Carlo Chatrian, Sie haben schon hier und da betont, dass Glamour Ihnen weniger wichtig ist als gute Filme. Und die scheinen im Moment weniger aus Hollywood zu kommen, richtig?

Chatrian:  Wir haben ein Programm aus verschiedenen Filmen zusammengestellt. Einer der Filme, auf die ich am meisten stolz bin, ist "Onward". Ein richtiger Hollywood-Film. Ein Pixar Disney Animationsfilm. Er läuft ab Anfang März überall in den Kinos.  Es ist wunderbar, einen Film zu präsentieren, den danach jeder sehen kann. Und es gefällt mir, einen Film im Programm zu haben, der nicht als besonderer Festivalfilm gilt, den ich aber sehr spannend und wichtig finde: Er erzählt von einer Fantasiewelt, in der Technologie alles ermöglicht, und die Protagonisten unterscheiden müssen, ob das wichtig ist, und wenn ja, wo es heute noch Magie geben kann.

Hollywood ist natürlich auch durch die Stars dabei, die es mitbringen: Elle Fanning, Salma Hayek oder Johnny Depp. Wir haben den Hollywood-Glamour, aber auf unsere Weise. Berlin ist nicht Los Angeles, das hier ist eine Stadt anderer Engel.

rbbKultur: "Das Kino ist tot, es lebe das Kino", so heißt ein neuer Dokumentarfilm über ihren Vorgänger Dieter Kosslick. Wo sehen Sie beide die Zukunft des Kinos, insbesondere wenn wir an den Erfolg von Streamingdiensten denken?

Rissenbeek: Ich bin davon überzeugt, dass das Kino als besonderer Ort der Begegnung, der Aufmerksamkeit und der emotionalen Erfahrung bestehen bleibt. Natürlich werden andere Formate, da sie dagegen konkurrieren, auch ein Teil der Aufmerksamkeit wegnehmen. Ich glaube aber nicht, dass das Publikum diesen Ort Kino, im dunklen Saal zu sitzen, auf die Leinwand zu blicken, vermissen will.

Chatrian: Es ist sehr schwer zu sagen, wo das Kino in zehn oder sogar in zwei Jahren sein wird, weil sich so viel so schnell verändert. Ich glaube, das Bedürfnis mit anderen Menschen durch Geschichten verbunden zu sein, wird bleiben. Das Festival ist ja nicht nur erfolgreich durch die Stars oder die mit Spannung erwarteten Filme, sondern als Ereignis, bei dem Menschen ihre Emotionen teilen. Das ist wichtig. Vielleicht tut das jüngere Publikum das eher über Twitter oder Instagram, doch die Notwendigkeit, an einem Ort zusammen zu sein, wird bleiben.

Carlo Chatrian, Natascha Freundel und Mariette Rissenbeek; © Carsten Kampf
Carlo Chatrian, Natascha Freundel und Mariette Rissenbeek | Bild: Carsten Kampf

rbbKultur: Das heißt, Sie sehen die neuen Möglichkeiten des Mediums nicht als Konkurrenz, sondern als Bereicherung des Filmgeschäfts?

Chatrian: Ich glaube, wir leben in sehr aufregenden Zeiten. Mit "wir" meine ich Menschen, die bewegte Bilder mögen und mit bewegten Bildern arbeiten, wegen eben der Dinge, die Sie genannt haben. Das Angebot heute ist so reich und divers. Kino war schon immer in der Lage, Dinge aus anderen Kunstformen zu übernehmen und daraus etwas Anderes zu schaffen. Wir haben Filme, die YouTube verwenden, etwa in der Sektion "Generation", sie verwenden YouTube-Techniken oder sogar YouTube-Videos. Diese Vielzahl verschiedener Quellen wird das Kino nutzen und auf seine Weise reproduzieren, da bin ich sicher.

Vielen Dank, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Natascha Freundel.