Dokumentarfilm - "Fragen Sie Dr. Ruth"
Können Sie sich noch erinnern, wer Sie aufgeklärt hat? Waren es Ihre Eltern, Ihre Mitschüler oder haben Sie sich die entscheidenden Informationen bei Dr. Sommer in der "Bravo" geholt? In den USA heißt die Chefaufklärerin seit 40 Jahren Dr. Ruth – eine liebenswerte ältere Dame mit deutsch-jüdischen Wurzeln, die in Radiosendungen, Talkshows und Filmen ihre Ratschläge verteilt. Mit über 90 ist Ruth Westheimer noch immer aktiv – jetzt wird sie sogar zum Star eines Dokumentarfilms.
Ruth Westheimer ist ein Phänomen. Gerade mal 1,40 Meter groß, verwuschelte Haare, ein freundliches Lächeln auf den Lippen und unzählige Lachfältchen um die Augen. Diese Frau wirkt wie eine gütige alte Omi, doch sie ist noch immer voller Energie und Tatendrang.
Eine Mischung aus Henry Kissinger und Minnie Mouse
"Ist es Sünde zu masturbieren?", "Ist meine Frau frigide?", "Kann ich mich bei meiner Partnerin mit HIV anstecken, weil sie homosexuelle Freunde hat?"
Alle nur denkbaren Probleme, die Menschen mit ihrer Sexualität haben, hat Ruth Westheimer schon mal gehört. Doch die Art, wie sie über solche Themen spricht, ist nie reißerisch oder abwertend, sondern immer voller Verständnis und voller Empathie. Als eine "Mischung aus Henry Kissinger und Minnie Mouse" hat eine Zeitung sie mal bezeichnet. Seit mittlerweile 40 Jahren ist die Frau in den US-Medien unglaublich populär.
Leichtes Spiel für den Regisseur
Regisseur Ryan White hat mit seiner Protagonistin leichtes Spiel: Eigentlich muss er nur die Kamera draufhalten auf das Energiebündel Dr. Ruth. Egal, ob sie die Vorzüge von Alexa entdeckt ("Sie kennt mich!"), ob sie im Late-Night-TV ihre Schlagfertigkeit demonstriert oder im Kreise ihrer Enkel den 90. Geburtstag feiert: An dieser Frau kann man sich kaum sattsehen - an ihrer Neugier, ihrer Wärme und ihrem Humor.
Keine Angst vor kontroversen Themen
Sexualerziehung ist in den USA bis heute ein kontroverses Thema. In welch schwierigem Umfeld sich "Dr. Ruth" bewegt, dokumentiert Ryan White mit Talkshow-Ausschnitten von 1980 bis heute. Wenn es um Themen wie Abtreibung oder HIV/AIDS geht, fliegen im Publikum schon mal die Fetzen. Doch egal, welches Thema Ruth Westheimer auch verhandelt, stets beeindruckt sie mit ihrer ruhigen und besonnenen Art.

Tragische Kindheit
"Fragen Sie Dr. Ruth" zeigt aber auch die andere, tragische Seite von Westheimers Biografie: Der Tod der Eltern im Holocaust, ihre einsame Kindheit in einem Schweizer Waisenhaus, ihre Zeit als Scharfschützin in der israelischen Armee: Vielleicht, so legt der Film nahe, liegt in diesem traurigen Schicksal der Schlüssel für Westheimers therapeutisches Talent. Die Frau, die in jungen Jahren aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen wurde, gibt ihren Patienten das zurück, was sie selbst damals vermisste: Liebe, Verständnis und Nähe.
Prädikat: absolut sehenswert
Eine tragische Biografie aus Nazi-Deutschland, eine kontroverse Sexual-Geschichte der USA und eine charismatische Protagonistin – ergibt das am Ende einen runden Film? Die Antwort lautet: ja.
"Fragen Sie Dr. Ruth" ist absolut sehenswert. Selten habe ich in einem Film gleichzeitig Tränen gelacht und war im selben Moment zu Tränen gerührt …
Carsten Beyer, rbbKultur