Schwarze Komödie | DVD - "Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden"
Die Spanier gelten als Meister des Surrealismus: Ihre Liebe zum Schrägen und Übernatürlichen zeigt sich in der Malerei von Joan Miró und Salvador Dalí, in der Architektur von Antoni Gaudí und in den Filmen von Luis Buñuel. Nun schickt sich der baskische Filmemacher Aritz Moreno an, diese Tradition fortzusetzen. Sein Debutfilm "Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden" war im vergangenen Jahr gleich für vier Goyas nominiert und schaffte es sogar bis zur Verleihung der Europäischen Filmpreise.
Die Geschichte beginnt mit einem unverfänglichen Treffen im Zug: Die Verlegerin Helga Pato (Pilar Castro) hat gerade ihren ungeliebten Ehemann (Quim Gutiérrez) in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und möchte nun wieder nach Hause nach Madrid. Da setzt sich ein älterer Herr und bietet ihr an, seine Lebensgeschichte zu erzählen …
Die ärztliche Schweigepflicht ist aufgehoben
Ángel Sanagustín (Ernesto Alterio) ist Psychiater in der gleichen Klinik, in der Helgas Ehemann untergebracht ist. Das behauptet er zumindest. Und er ist voller interessanter Geschichten über seine Patienten. Da ist zum Beispiel der geheimnisvolle Martin Urales (Luis Tosar), der als Militärarzt im Kosovo in die Machenschaften einer Kinderhändler-Bande verwickelt wird. Oder seine Freundin, die Kinderärztin Linares (Stèphanie Magnin), die sich prostituiert, um ein bisschen Geld für ihre Abteilung zu beschaffen.
Ein verwirrender Strudel
Der Psychiater und die Verlegerin, Angel und Helga, sie sind die Erzähler in Aritz Morenos fulminanten Film-Debut. Nichts von dem, was sie berichten, ist wirklich vertrauenswürdig. Noch nicht mal auf ihre Identität oder ihr Geschlecht kann man sich verlassen – und doch sind sie die einzigen Anker in dem verwirrenden Strudel einer surrealen Story, die den Zuschauer in die Gehirne von Menschenhändlern und obsessiven Hundeliebhabern führt und die nach vielen überraschenden Wendungen auf der Müllkippe unter einem Madrider Wohnhaus endet.
"Glaubwürdigkeit ist überbewertet"
Aritz Morenos Film basiert auf dem Roman "Ventajas de viajar en tren" seines Landsmannes Antonio Orejudo Utrilla. Im Grunde ist es nicht eine Geschichte, die hier erzählt wird, sondern eine Vielzahl absurder Episoden, die wie eine russische Matrjoschka ineinander verschachtelt sind. Immer, wenn man glaubt, eine Figur zu durchschauen, wird eine weitere Hülle geöffnet - und der Boden, den man gerade noch unter seinen Füßen wähnte, öffnet sich erneut.
"Glaubwürdigkeit ist überbewertet“ – so lautet einer der Schlüsselsätze des Films – und manchmal scheint es, als mache sich der Regisseur nicht nur über seine Charaktere, sondern auch über sein Publikum lustig.
Die Klassiker des Surrealismus stehen Pate
Aritz Moreno liebt es, mit Zitaten zu spielen: Salvador Dalí, Oscar Dominguez und Luis Buñuel – all die Klassiker des spanischen Surrealismus haben hier Pate gestanden, genauso wie zeitgenössische Filmemacher á la Jean-Pierre Jeunet ("Delicatessen") oder Terry Gilliam ("12 Monkeys").
Gleichzeitig setzt der Baske aber auch seine eigenen Akzente. Wie er es schafft, auch noch die absurdesten Geschichten adäquat zu illustrieren - mit opulenten Bildern, schnellen Schnitten und ständig wechselnden Kamera- Perspektiven – ist sehenswert.
Nichts für Zartbesaitete
Doch Moreno will sein Publikum auch schockieren, das ist er seinen großen Vorbildern schuldig. Es gibt verstörende Szenen in diesem Film, Horror-Elemente und Sodomie. Und wo bei Buñuels "Andalusischem Hund" eine Rasierklinge in ein menschliches Auge schneidet, lässt Moreno Helga einen menschlichen Schädel aufsägen, um das Gehirn an ihre Hunde zu verfüttern.
"Die Obskuren Geschichten eines Zugreisenden" ist eine cineastische Grenzerfahrung - aber eine Grenzerfahrung, die sich durchaus lohnt.
Carsten Beyer, rbbKultur