Historisches Drama - "Verlorene Illusionen"
Der dreiteilige Romanzyklus "Verlorene Illusionen" von Honoré de Balzac ist ein Sittenbild der französischen Restaurationszeit. Es geht um die französische Klassengesellschaft, um den Literaturbetrieb und den damals aufkommenden Sensationsjournalismus. Nachdem der Stoff in den 60er-Jahren schon einmal als französischer Fernsehmehrteiler verfilmt wurde, gibt es jetzt zum ersten Mal eine Kinoversion. Xavier Giannoli hat ihn unter anderem mit Cécile de France und Gérard Depardieu verfilmt.
Bei den Verleihungen der französischen Filmpreise, den Césars, war der Film in spektakulären dreizehn Kategorien nominiert, das gab es noch nie zuvor. Sieben Mal wurde er ausgezeichnet - unter anderem als bester Film, für die beste Regie, das beste Drehbuch, die beste Kamera und mehrere Darsteller.

Schwärmerische Gedichte und naive Illusionen
Der Film handelt vom jungen Lucien Chardon (Benjamin Voisin), der sich ein wenig hochstaplerisch Lucien de Rubempré nennt, nach dem besser klingenden Namen seiner Mutter. Er lebt in der Provinz auf dem Land, träumt davon, ein berühmter Schriftsteller zu werden und hat eine Affäre mit der verheirateten Louise de Bargeton (Cécile de France), der er seine schwärmerischen Gedichte widmet: "Die Poesie ist ihm etwas Heiliges, eine Art intime Religion fast", schwärmt sie zurück.

Mit ihr reist er nach Paris, in der Hoffnung auf eine Einführung in die gehobene Gesellschaft und die Literaturzirkel der Stadt. Schnell lernt er den jungen Zeitungsredakteur Etienne (Vincent Lacoste) kennen, bei dem er um Arbeit bittet, der ihm zunächst mal alle naiven Illusionen über seinen Beruf nimmt: Nicht darum, die Kunst und die Welt zu erklären ginge es, sondern darum, die Aktionäre der Zeitung reich zu machen: "Unsere redaktionelle Linie ist einfach: Wir werden alles verwahrheiten, was wahrscheinlich ist."
Edelfedern und Fake News in der französischen Restaurationszeit
Etienne nimmt ihn unter seine Fittiche, Lucien lernt schnell und erweist sich als talentiert. Er erlebt einen rasanten Aufstieg als neue Stimme der Theater- und Literaturkritik mit gefürchtet boshaftem Schliff. Er wird "im Namen des bösen Glaubens, des heißen Gerüchtes und der heiligen Werbeanzeige" mit Champagner zum Journalisten getauft.
Lucien lässt sich im Rausch seiner neu gewonnenen Macht und der Vergnügungen, die die Stadt Paris bietet, treiben. In heutiger Zeit würde man ihn eine Edelfeder nennen, überhaupt schlägt Giannoli viele Brücken in die heutige Zeit von Fake News, Influencern und Meinungsmanipulationen aller Art, die Boulevardzeitungen von damals finden ihre Parallele in den sozialen Medien von heute.

Dabei entwickelt seine Inszenierung so viel vitalen Schwung und eleganten Drive, dass der Film nie wie ein angestaubtes Kostümdrama wirkt, sondern eher wie ein flirrendes Spiel: "Die Machenschaften, das endlose Palaver, der Klatsch, das ist nur Lärm, heiße Luft", sagt der als Off-Erzähler fungierende Nathan d’Annastazio, der von Wunderkind-Regisseur Xavier Dolan gespielt wird und sozusagen das Alter Ego Balzacs ist, der diese Geschichte in seinem Romanzyklus erzählt hat: "Man muss lernen, es als ein Spiel zu begreifen."
Jahrmarkt der Eitelkeiten
Lob und Tadel sind in der Zeit der aufkommenden Boulevardpresse käufliche Waren, die an den höchsten Bieter verschachert werden. Die Choreografie der Publikumsmeinung wird mindestens so aufwendig und mitreißend inszeniert wie die eigentliche Theateraufführung: Als Oberbefehlshaber des Publikumsheeres wirbelt Singali (Jean-François Stévenin) mit Claqueuren, Buhrufern, Protesttramplern und wahlweise geworfenen Taschentüchern oder Blumen. Irgendwann entwickelt er sogar einen unter den Stühlen angebrachten Mechanismus, der dem Publikum anstimmenden Beifall suggeriert und sie dazu animieren soll, einzustimmen.
Echte Qualität und wahre Liebe zählen wenig auf diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Sie sind ein Luxus, den sich nur wenige leisten. Gegen Hochmut und Gier, gegen Eitelkeit und Neid und vor allem gegen die Standesdünkel haben sie kaum eine Chance. Die wahre Liebe zwischen Lucien und der jungen Boulevardschauspielerin Coralie, sie hat keine Zukunft, die Intensität ihres Spiels keine Chance gegen Standesdünkel: Eine Boulevardschauspielerin in einem Stück des hehren Nationaldichters Racine? Unerhört! Gerade war Lucien noch der gefeierte Liebling der feinen Gesellschaft, im nächsten Moment lässt sie ihn unsanft vom Thron fallen: "Der Mistkerl hat uns verraten, er muss büßen! Setzen wir da an wo’s wehtut!"

Doppelzüngiges Spiel mit Schein und Sein
Auf den rauschenden Aufstieg folgt der harte Fall: Lucien wird verjagt, kehrt in die Provinz zurück, und zu sich selbst, was im Sinne der wahren Kunst durchaus seine Vorzüge hat. Doch wichtiger als der Gang der Handlung ist das doppelzüngige Spiel mit Schein und Sein, der virtuose Schlagabtausch mit dem rhetorischen Florett und der Brückenschlag zwischen den Zeiten, der all die Rüschen, Quasten und Korsette des Kostümfilms überraschend gegenwärtig erscheinen lässt.
Anke Sterneborg, rbbKultur