Drama - "Passagiere der Nacht"
Impressionistisch getupfte Momente des Lebens, oft mit einem melancholischen Unterton, und ein feines Gespür für das Lebensgefühl junger Menschen - das ist die Spezialität des französischen Regisseurs Mikhaël Hers in Filmen wie "Dieses Sommergefühl" oder "Mein Leben mit Amanda". Sein neuestes Werk "Passagiere der Nacht", prominent besetzt mit Charlotte Gainsbourg und Emmanuelle Béart, feierte seine Premiere im letzten Jahr im Wettbewerb der Berlinale und kommt jetzt in unsere Kinos.
Wie im letzten Jahr der ebenfalls französische Film "Die Magnetischen" beginnt nun auch "Passagiere der Nacht" am 10. Mai 1981, dem Tag, an dem der Sozialist François Mitterrand zum Präsidenten Frankreichs gewählt wurde.

Nostalgische Reise zu den Gefühlen und Stimmungen der Kindheit
Nachdem die bisherigen Filme von Mikhaël Hers, geboren 1975, sehr gegenwärtig angelegt waren, ist "Passagiere der Nacht" eine nostalgische Reise zu den Gefühlen, Stimmungen und Geräuschen seiner eigenen, noch ganz analogen Kindheit - ohne Computer, Internet und Handys. Zugleich ist der Film eine liebevolle Hommage an das klassische Night Talk-Radio.
"Meine lieben Passagiere der Nacht", addressiert die von Emmanuelle Béart gespielte Night Talk-Moderatorin ihre Zuhörer: "Wir haben den 10. Mai, hier ist Vanda Dorval, die Sie wieder bis vier Uhr morgens durch die Nacht begleiten wird."
Neuerfindung des eigenen Lebens nach traumatischen Erschütterungen
"Passagiere der Nacht", das ist der Titel ihrer nächtlichen Radiosendung, in der ganz normale Menschen von ihren Schicksalen und Lebensgeschichten erzählen. Zugleich sind es aber auch die verschiedenen Mitglieder einer Familie auf der Suche nach ihrem neuen Platz in veränderten Konstellationen.
Die von Charlotte Gainsbourg gespielte Elisabeth steht vor den Trümmern ihres Lebens und sucht zum ersten Mal in ihrem Leben Arbeit. Sie bewirbt sich bei der Moderatorin jener Nachtsendung, der sie in vielen schlaflosen Nächten gelauscht hat. Ihr Mann hat sie für eine Jüngere verlassen, nun ist sie gezwungen, zum ersten Mal in ihrem Leben zu arbeiten.
Wie alle Filme des Regisseurs erzählt auch dieser davon, wie sich ein Mensch nach einem erschütternden Erlebnis neu sortieren, neu erfinden muss. Nachdem es in "Dieses Sommergefühl" und "Mein Leben mit Amanda" um die Nachwirkungen tragischer Todesfälle ging, erzählt Mikhaël Hers in "Passagiere der Nacht" jetzt auf andere Weise von Trennung und Verlust.

Flüchtige Momente und melancholische Lebensgefühle
Erneut tupft der Autorenregisseur flüchtige Momente auf die Leinwand, die sich zu einem poetisch-melancholischen Lebensgefühl verdichten.
Ein weiterer "Passagier der Nacht" ist die 18-jährige Ausreißerin Talulah, die gerade in Paris angekommen ist und mehr oder weniger auf der Straße lebt. Verkörpert wird sie von Noée Abita, die vor ein paar Jahren schon als langsam erblindender Teenager in dem Jugendfilm "Ava" mit ihrer Mischung aus Zähigkeit und Zartheit, aus Poesie und Trotz aufgefallen ist. In "Passagiere der Nacht" erinnert sie mit dunklen Haaren, großen Augen und sinnlichem Mund an die aparte Schönheit der jungen Béatrice Dalle. Spontan beschließt Elisabeth, sie bei sich aufzunehmen, was ihre erwachsene Tochter missmutig kommentiert:
"Hast du vor, alle streunenden Katzen durchzufüttern?", frotzelt sie. "Sie rührt mich irgendwie", entgegnet die Mutter nachdenklich.

Die Stimmung eines Moments
Ähnlich unwirsch reagiert die Studentin auf die zarten Liebesbande zwischen der neuen Mitbewohnerin in ihrem Elternhaus und ihrem jüngeren Bruder Mathias. Doch auch in diesen Nebenarm der Geschichte sind Schmerz und Verlust eingeschrieben: "Ich bin nicht die Richtige für dich, Matthias", sagt sie. "Ich denke oft an die Momente, die wir gemeinsam erlebt haben, die sind wie Geschenke."
Es passiert nicht viel in den Filmen von Mikhaël Hers, das Glück liegt in den kleinen Dingen, in flüchtigen Begegnungen und in der Art, wie sie die Stimmung eines Moments einfangen.
"Es wird bleiben, was wir für andere waren, und wir waren einfach nur da. Es hatte etwas Warmes, Ewiges. Wir waren nie dieselben, sondern immer wieder schöne Unbekannte. Fragmente unserer selbst, wie jene Passagiere der Nacht."
Anke Sterneborg, rbbKultur