Berlinale Wettbewerb - "Irgendwann werden wir uns alles erzählen"
Fünf Filme des Berlinale-Wettbewerbs kommen in diesem Jahrgang aus Deutschland, also gut ein Viertel aller Bären-Konkurrenten. Den Auftakt machte am Freitag der neue Film von Emily Atef, deren Drama "Drei Tage in Quiberon" über ein legendäres Interview mit Romy Schneider, auch schon im Wettbewerb lief. "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" basiert auf dem gleichnamigen Roman von Daniela Krien, die das Drehbuch zusammen mit Emily Atef geschrieben hat.
Der Film spielt in einem heißen Sommer auf dem Land in Thüringen, 1990, kurz nach dem Fall der Mauer. In dieser Zeit des Umbruchs ist die 18-jährige Maria auf dem Hof der Familie ihres Freundes Johannes untergeschlüpft, wo sie fast wie eine Tochter aufgenommen, aber auch genau beobachtet wird. Eines Tages beim Spaziergang wird Maria von den beiden Rottweilern von Henner bedroht, der auf dem Nachbarhof Pferde züchtet. Der Schrecken über die aggressiven Hunde schlägt dann schnell in eine andere Form von Erregung um: in eine erotische Anziehung zu dem mehr als doppelt so alten Raubein Henner.
Amour Fou auf Augenhöhe
Daniela Krien hat den gleichnamigen Roman 2011 geschrieben, lange bevor der Harvey Weinstein-Skandal öffentlich wurde. Nach den #MeToo-Umwälzungen tut man sich erst mal ein bisschen schwer mit einer Amour Fou zwischen einem Teenager und einem sehr viel älteren, ruppigen Mann. Einige Szenen kommen gefährlich nah an eine Vergewaltigung, an das, was man heute toxische Männlichkeit nennt. Doch bei genauerem Hinsehen wird schnell klar, dass diese Maria kein naives Mädchen ist, das von einem manipulativen Mann verführt wird - schon weil Marlene Burow Maria als starke Persönlichkeit spielt, die das aufregend findet, aber auch in der Lage ist, Grenzen zu setzen.
Das wiederum ist ein wiederkehrendes Thema von Emily Atef, die immer wieder von Frauen erzählt hat, die sich auf unterschiedliche Weise von gesellschaftlichen Erwartungen befreien, davon, was ihnen erlaubt oder von ihnen erwartet wird. Zugleich ist auch der von Felix Kramer gespielte Henner kein tumber Bauer, der sich auf sie wirft. Die beiden sind nicht Täter und Opfer, sondern erleben eine intensive Liebesgeschichte, in der sie sich trotz des Altersunterschieds durchaus auf Augenhöhe begegnen - nicht nur nicht sexuell, sondern auch in ihrer gemeinsamen Liebe zur Literatur.
Kitschfreie, wahrhaftige Sinnlichkeit
Und schließlich hat Emily Atef als Regisseurin schon mehrfach ein besonders feines Gespür für intime Momente bewiesen. So gibt es eine etwa zehn Minuten lange Szene, die zum Erotischsten gehört, das im Kino zu sehen ist - obwohl im Grunde fast gar nichts passiert: nur verhaltene Blicke, Berührungen, ein minimal sich veränderter Atem. Erreicht wurde das auch mit Unterstützung einer einfühlsamen Intimacy Coachin. Die intimen Szenen, die im Film betörend natürlich wirken, wurden minutiös geprobt und in einer sehr respektvollen, rücksichtsvollen Annäherung choreografiert, so dass jeder wusste, was passiert, ohne unerfreuliche Überraschungen im Stil von "Der letzte Tango".
Auch ein Wende-Film
Der Film spielt auf dem Land in Thüringen, kurz nach dem Fall der Mauer, und reiht sich in eine Serie von Filmen ein, die in den letzten Jahren einen offeneren und freieren Tonfall im Umgang mit der DDR anschlagen. "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" ist ein Kontrastprogramm zur grauen, dumpfen DDR, die man in vielen Filmen zu sehen bekommt. Das ist ein sinnlicher, sonnendurchfluteter Sommer, mit aufwühlenden Gefühlen, die sich in der Landschaft spiegeln, in wogenden Weizenfeldern, in Wiesen und Wäldern, in denen es ständig zirpt, zwitschert und raschelt. Und es ist eine Geschichte darüber, mit vielen verschiedenen Arten zwischen Frust und Freiheitsversprechen auf die veränderten Verhältnisse zu reagieren.
Anke Sternborg, rbbKultur