Dokumentation - "All the Beauty and the Bloodshed"
Im März dieses Jahres ging der Käthe-Kollwitz-Preis 2022 an die amerikanische Fotografin Nan Goldin. Jetzt kommt ein Dokumentarfilm über Nan Goldin in die Kinos, der 2022 in Venedig mit dem Goldenen Löwen geehrt wurde: "All the Beauty and the Bloodshed". Regie führte Laura Poitras, die für ihre Doku "Citizen Four" über den Whistleblower Edward Snowden 2014 den Oscar bekam.
Seit den 70er Jahren fotografierte Nan Goldin queere, schwule, lesbische Menschen, Menschen aus ihrem Umfeld in ihrem Alltag, Menschen, die anders waren. Und anders, nicht zugehörig, hat Nan Goldin sich selbst auch immer schon gefühlt, darüber spricht sie in dieser Dokumentation, die ihr Leben und ihre Kunst mit viel Sympathie betrachtet, ganz offen.

Eine Familientragödie prägt ihr Leben
Aufgewachsen in einem streng konservativen Elternhaus, ist sie 11 Jahre alt, als ihre acht ältere Schwester sich das Leben nimmt. Dieser Suizid bleibt in der Familie ein Tabu. Er prägt Nan Goldins Leben. Mit 14 zieht sie von Zuhause aus und findet in der Bostoner Sub-Kultur Unterschlupf und Freunde, die sie zu fotografieren beginnt. Sie studiert dann Fotografie, geht nach New York – und weil sie keine eigene Dunkelkammer hat, macht sie Dias. Filmähnliche Diashows werden ihr Ausdrucksmittel – für Filme habe sie nicht genug Fantasie, sagt sie selbst. Motive bleiben ihre Freunde aus der LGBTQ*-Community. Viele von ihnen sterben an Aids – Goldin dokumentiert ihre Krankheit und den Tod, das Sterben.
1995 hat Nan Goldin hat ihren Durchbruch, als es eine große Retrospektive ihres Werks gibt, die im Anschluss weltweit gezeigt wird. Seitdem zählt sie zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlerinnen.
Opioidkrise als künstlerische Antriebskraft
2017 gründete Nan Goldin die Aktions-Gruppe "P.A.I.N" in der sie die Verantwortlichen der "Opioidkrise" in den USA ins Visier nimmt, namentlich die Familie Sackler. Die brachte 1996 ihr Schmerzmittel "Oxycontin" auf den Markt und verdiente damit Milliarden: angeblich harmlos, trieb dieses Medikament Hundertausende in die Abhängigkeit und in den Tod. Auch Nan Goldin bekam "Oxy" nach einer OP verschrieben, wurde süchtig und konnte sich gerade noch befreien. Seitdem engagiert sie sich mit aufsehenerregenden Aktionen in berühmten Museen, in denen auch Bilder von ihr hängen, um auf die Gefahr des Medikaments und das zweifelhafte Mäzenatentum der Familie Sackler, die ihr Geld immer schon in Kunst steckte, aufmerksam zu machen. Diese Aktionen im New Yorker Metropolitan Museum, im Guggenheim oder Louvre sind auch im Film mitreißend, und hatten tatsächlich Erfolg. Die meisten Museen haben den Namen "Sackler" gestrichen.

Kein klassisches Künstlerportrait
Die Kunst von Goldin war immer schon im weitesten Sinne politisch; in dem prüden Amerika der 80er Jahre hat sie Tabus gebrochen, Grenzen überschritten. Mit ihren Oxy-Aktionen stellt sie heute das System, das sie selbst repräsentiert, in Frage. Insofern ist "All the Beauty and the Bloodshed" kein klassisches Künstlerportrait – so wie die anderen Portraits, die Laura Poitras in den letzten Jahren gedreht hat, auch ungewöhnlich sind – von der Umsetzung bis zur Auswahl der Protagonisten.
Hier hat Poitras ihre Gespräche mit der heute 69-jährigen Goldin nur als Audio aufgenommen, die Kamera blieb draußen. Das erzeugt eine starke Intimität. Dankenswerter Weise gibt es auch keine Statements sogenannter Wegbegleiter. Goldin selbst sortiert sich und ihre Kunst ein, war auch mit für die Musikauswahl verantwortlich.
Und so verschmilzt die Kunst der Fotografin mit Archivmaterial aus den 80er und 90er Jahren und der Kunst Poitras‘: Man lässt sich sein, vertraut sich.
In der Synchronisation geht die rauchige Stimme von Nan Goldin leider etwas unter, im Original nämlich erzählt sie wie nebenbei aus ihrem Leben, so als ginge es um nichts. Dabei ging es immer um alles.
Christine Deggau, rbbKultur