Drama - "Die Linie"
Weil sie ihre Mutter geschlagen hat, wird Margaret mit einem Kontaktverbot belegt. Drei Monate lang darf sie sich deren Haus nur noch auf bis auf 100 Metern nähern. "Die Linie" ist das bedrückende Porträt einer disfunktionalen Familie, die durch ein Gerichtsurteil auseinandergerissen wird und nur schwer wieder zusammenkommt.
Die Schweiz wird oft als Vorzeigeland gepriesen: Eine herrliche Bergwelt, alte Städte mit historischer Bausubstanz und zufriedene Bürger, die in einem Schlaraffenland aus Schokolade und Käse leben. Bei Ursula Meier jedoch sieht die Schweiz ganz anders aus: Ein trostloses Neubaugebiet, eine Straße und ein schmutziger Kanal. Die Berge sieht man höchstens mal in der Ferne, wenn es gerade nicht neblig oder regnerisch ist. Stattdessen dröhnt der Lärm der Fernbahnlinie durchs Tal.
Permanenter Liebesentzug
Hier steht das Haus von Christina (Valeria Bruni Tedeschi). Früher war sie Konzertpianistin, doch nun liegen ihre besten Tage hinter ihr. Anstatt sich um ihre drei Töchter zu kümmern, flüchtet sich Christina in den Alkohol und in Affären mit immer jüngeren Liebhabern. Eines Tages kommt es zum Eklat: Margaret (Stéphanie Blanchoud), die älteste Tochter, die am stärksten unter dem permanenten Liebesentzug leidet, greift ihre Mutter tätlich an. Christina landet im Krankenhaus, Margaret vor Gericht: Drei Monate lang darf sie sich dem Haus der Mutter nur noch auf 100 Meter nähern.

Ein Riss durch die Familie
Die "Linie", von Margarets jüngerer Schwester Marion (Elli Spagnolo) mit blauer Farbe auf den Asphalt gepinselt, wird zum Fanal für den Riss, der durch die Familie geht. Wie ein Hund, dem man die Hütte vernagelt hat, kommt Margaret trotzdem immer wieder zum Haus ihrer Mutter angeschlichen, nimmt Gewaltandrohungen und Demütigungen auf sich, um in der Nähe ihrer Familie zu sein. Um den Kontakt nicht ganz abzureißen, gibt sie Marion Gesangsstunden. Getrennt durch die Linie stehen die beiden Schwestern in der Kälte und singen Kirchenlieder, begleitet von Margarets E-Gitarre. Ein trauriges und zugleich absurdes Bild.
Mangel an Selbstwertgefühl
Die Figuren in Ursula Meiers Film reden nicht viel – und wenn, dann reden sie aneinander vorbei: So wie Christina, die über ihre Töchter spricht und doch immer nur sich selbst meint. Und wenn sie am Heiligen Abend ihre Tochter Louise (India Hair) mit zwei Neugeborenen im Arm stehen lässt, um lieber mit ihrem neuen Lover (Dali Benssalah) zu knutschen, werden Narzissmus und Selbstgerechtigkeit dieser Frau deutlich. Das alles, die fehlende Mutterliebe und der dadurch ausgelöste Mangel an Selbstwertgefühl mag als Erklärung für Margarets Wutausbrüche und ihren unkontrollierten Drang zu Gewalt dienen. Mit ihren Verletzungen und ihren Traumata muss die junge Frau trotzdem alleine klarkommen.

Sozialrealistisches Kino ohne Gnade
Mit düsteren sozialrealistischen Filmen wie "Winterdieb" und "Schockwellen" hat Ursula Meier auf internationalen Festivals für Furore gesorgt. 2013 war sie sogar mal auf der Schweizer Vorschlagsliste für den Oscar. Nun ist ihr erneut ein beeindruckender Film gelungen. "Die Linie" ist sozialrealistisches Kino, wie man es sonst von Ken Loach oder den Dardenne-Brüdern kennt: ohne Kitsch, ohne Pathos, aber mit viel Ehrlichkeit und ohne Gnade.
Carsten Beyer, rbbKultur