Essayfilm - "Jeder schreibt für sich allein"
Müssen gute Künstler auch anständige Menschen sein? Diese Frage stellt sich nicht nur im Umgang mit der Literatur, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland entstanden ist, sondern auch ganz aktuell im Zusammenhang mit den virulenten MeToo-Debatten: Darf man die Filme von Roman Polanski oder mit Kevin Spacey noch anschauen? Kann man das Werk und den Schöpfer voneinander trennen? Um diese Fragen kreist auch der neue Essayfilm "Jeder schreibt für sich allein" von Dominik Graf.
Die Verfilmung des gleichnamigen Sachbuchs von Anatole Regnier ist in gewisser Weise auch eine zeitliche und gedankliche Weiterführung von Grafs Erich Kästner-Verfilmung "Fabian oder Der Gang vor die Hunde", denn Kästner war einer der Autoren, die nach 1933 in Deutschland geblieben sind.

Aus dem Alltag von heute in die Historie
Ganz ähnlich wie in "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" setzt nun auch der Essayfilm in der Gegenwart an, um davon ausgehend in die Vergangenheit einzutauchen. So beginnt Dominik Graf mit einer Alltagsbeobachtung: Schuhe, achtlos weggeworfen, die überall an den Straßenrändern auftauchen. Die Schuhe von heute sind eine Brücke zur Vergangenheit, in der Berge von Schuhen, die eine ganz andere, grausige Geschichte erzählen.
Statt mit der Selbstgerechtigkeit und Arroganz der Nachgeborenen über die Menschen zu urteilen, wollte Anatole Regnier genauer wissen, was es wirklich bedeutete, damals in der Nazi-Diktatur zu leben:
"Das Lebensthema Nationalsozialismus meiner Generation, überwältigend, entsetzlich. Alle Erwachsenen in meiner Kindheit hatten die Zeit durchlebt - die Eltern, die Tanten, die Onkels, die Lehrer, die Taxifahrer - und das ist mir immer entglitten. Ich konnte nicht finden: wie hat sich das angefühlt?"
Ambivalenzen und Widersprüche
Streng genommen ist "Jeder schreibt für sich allein" keine Verfilmung des Sachbuchs von Regnier, sondern eine Weiterentwicklung, an der auch der Autor stark beteiligt war. So sieht man ihn immer wieder in den weitläufigen Kellerräumen des Marburger Literaturarchivs bei der Sichtung von Dokumenten, die viel darüber verraten, wie sich die Schriftsteller arrangiert oder gesperrt haben. Beispielsweise Kästner, der in einem Brief an seine Mutter von den Verhandlungen über eines seiner Drehbücher im Propagandaministe-rium berichtet, das er 1942 unter dem Pseudonym Berthold Bürger verfasst hatte:
"Es kann nicht anders gewesen sein, als dass Goebbels persönlich das genehmigt hat, sonst wär das unmöglich gewesen, obwohl er nach dem Krieg immer gesagt hat, er hatte 12 Jahre Berufsverbot, was ihm nicht vorzuwerfen ist, er hat sich halt durchgemogelt und das Drehbuch ist auch schön!"
Zwei Punkte für Kästner, einer gegen ihn: Immer wieder arbeiten Regnier und Graf die Ambivalenzen heraus. Denn einfach ist gar nichts im Alltag einer Diktatur, auch fürs Ausharren in der Heimat gibt es Argumente. Kästner, der zusehen musste, wie seine Bücher verbrannt wurden, wollte einen zeitgeschichtlichen Roman über sein Land schreiben.

Vielstimmige Collage
Schwieriger ist der Umgang mit Gottfried Benn, wie der am Anfang des Jahres verstorbene Historiker, Publizist und Politiker Christoph Stölzl rekapituliert: "Und ich muss sagen, dass ich jetzt, nachdem ich mich weiter um Benn herum biografisch interessiert habe, schon als alter Mann ganz furchtbar enttäuscht bin, wie kleinlich und dann doch auch korrupt im Grunde das ist, wie er sich hat anheuern lassen, wie er Nutznießer war."
Dominik Graf und sein Co-Regisseur und Produzent Felix von Böhm kompilieren eine vielstimmige, komplexe und immer spannende Collage aus Dokumenten wie Briefen und Tagebüchern, historischen Aufnahmen und Spielszenen. Zusammen mit Autoren verschiedenster Altersgruppen wie Gabriele von Arnim und Florian Illies klopfen sie die Lebensläufe renommierter und zweifelhafter Schriftsteller wie Kästner, Benn und Fallada oder auch Will Vesper in vielen Facetten ab.
Gibt es so etwas wie "innere Emigration" überhaupt? Das ist eine ihrer brennenden Fragen, zu der sich der Autor Albert von Schirnding positioniert: "Für mich ist das absolute Negativbeispiel da Frank Thiess, der selber spricht von Tarnung und Vermummung. Ja, wenn ich mich tarne, dann tarne ich mich als Nationalsozialist, das sagt ja schon das Beiwort, innen ist man also nicht Nazi, nach außen hin aber schon. Er hat sich angebiedert aufs Scheußlichste um dann nachher zu sagen, das war nur Tarnung, innerlich fand ich das alles grässlich. Da sind mir die richtigen Naziautoren, muss ich sagen, lieber."

Das Gegenwärtige im Historischen
Als einziger Nichtautor ist der Filmproduzent Günter Rohrbach ein Sonder- und Glücksfall für den Film: Mit 94 Jahren ist er der einzige Zeitzeuge und ein lebendiger Erzähler, der seine Entwicklung im Nationalsozialismus schonungslos ehrlich reflektiert. Während vor allem die jüngeren Autoren ein hartes Urteil fällen, ist er es, der sich zusammen mit Regnier, Graf und von Böhm für mehr Ambivalenz einsetzt: "Da kommen wir natürlich an eine ganz aktuelle Diskussion, wir erleben das ja heute auf vielen Feldern der Kunst - nicht nur in der Literatur, auch in der Malerei, selbst in der Musik: Man muss eine gewisse Trennung von Person und Werk akzeptieren."
Tatsächlich denkt dieser kluge und nachdenkliche Essayfilm im Historischen immer auch die Gegenwart mit.
Anke Sterneborg, rbbKultur