Drama - "Welcome Venice"
Venedig - in Film und Fernsehen ist das die Stadt von Donna Leon und Kommissar Brunetti oder von Luchino Viscontis und Thomas Manns "Tod in Venedig". Wie aber sieht das wirkliche Venedig aus, das Venedig, das Touristen nie zu Gesicht bekommen? Der italienische Filmemacher Andrea Segre ist in Venedig geboren, lebt aber inzwischen in Rom. Für seinen neuen Film "Welcome Venice" ist er noch einmal in die Stadt seiner Kindheit zurückgekehrt.
Am Anfang lernen wir die Familie kennen – drei unterschiedliche Brüder mit ihren Frauen und Kindern beim Essen in einer dunklen Stube. Das Mobiliar ist in die Jahre gekommen. Toni ist Fischer wie der Vater, Piero war im Knast, weil er gestohlen hat. Jetzt hilft er auf dem Boot. Und Alvise ist Geschäftsmann geworden und verdient sein Geld mit der Vermietung von Ferienwohnungen.

Andrea Segre zeigt das unsichtbare Venedig
Die Grenze zwischen dem traditionellen Leben und neuen Verdienstmöglichkeiten geht direkt durch die Familie. Als Toni von einem Blitz erschlagen wird, entflammt ein offener Streit zwischen den beiden anderen Brüdern um das gemeinsame Familienhaus. Es ist zwar heruntergekommen, aber wegen seiner Lage auf der Giudecca ein Vermögen wert. Piero will weiter in dem Haus wohnen und Krebse fischen. Alvise mit Goldrandbrille, Trenchcoat und Zigarre will das Haus in Ferienwohnungen umwandeln. Diese konträren Vorstellungen lassen die Familie fast zerbrechen.
Ein Film über die Lagune und die Fischer
Andrea Segre hatte das Glück am Ende der Pandemie zu drehen, als noch keine Menschenmassen durch die Stadt strömten. Er wechselt die Perspektive, er schaut nicht auf die Straßen, sondern auf das Wasser. Er dreht bei Regen und Dunst. Es sind langsame Bilder. Das Leben der Fischer verläuft in einem anderen Tempo als das der Touristen. Während sie ihre Netze flicken, erzählen sie sich umständlich die Geschichten aus alten Filmen, die sie gesehen haben. Sie fangen vor allem die Krebse, die "moeche", eine venezianische Spezialität.
Der Regisseur verbrämt nichts. Sein Vater hat bis zu seinem Tod in Venedig gelebt. Einmal sprechen die Brüder darüber, wie sie schwimmen gelernt haben. Der Vater hat sie vom Boot aus ins Wasser geworden und sie mussten zurück ans Land schwimmen. Alvise, der Geschäftsmann, wäre dabei beinahe ertrunken. Vielleicht hat er deshalb ein gebrochenes Verhältnis zur Fischerei. Aber Andrea Segre deutet diese Enden nur an, er erzählt die Geschichte, vorsichtig, zart, als hätte er Angst, dass sie so leicht zerbrechen könnte wie das traditionelle Leben der Venezianer.

Krebse oder Kapital
In dem Film stehen sich zwei Gesellschaftsmodelle gegenüber – der Zusammenhalt der Familie, auch wenn sie zerstritten ist und die knallharte Kalkulation von Immobilienspekulanten, die internationalen Konsortien angehören. Die Geschäftsleute kann man auch an ihrer Sprache erkennen. Selbst wer kein Italienisch spricht, hört den Unterschied zwischen dem geschmeidigen Hoch-Italienisch der Spekulanten und dem harten, rauen Dialekt der Venezianerinnen und Venezianer. Es sind solche Details, die diesen wehmütigen Film so faszinierend machen.
Ein unlösbarer Konflikt
Andrea Segre ist zu sehr Realist, um ein Happy End zu erzählen. Ein Teil der Spannung entsteht dadurch, dass auch das Publikum kaum einen Ausweg sieht. So hart die Fischer arbeiten, sie kommen doch auf keinen grünen Zweig. Trotzdem findet Segre eine pfiffige Wendung am Ende, auf die man sich nur freuen kann, wenn man sie nicht kennt.
Simone Reber, rbbKultur