Nazar Bilyk: Grenzen 2010 / Borders, 2010 © Nazar Bilyk
Nazar Bilyk
Download (mp3, 8 MB)

Haus am Lützowplatz - Früchte des Zorns. Versuch einer Annäherung: Ukraine

Geschichte kommentieren, während sie stattfindet – diesen Versuch unternahm der Schriftsteller John Steinbeck mit seinem Roman "Früchte des Zorns" zur Zeit der "Great Depression" in den USA. Einen ähnlichen Versuch wagt diese Ausstellung, die den Romantitel zitiert und die Möglichkeiten der Kunst im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine befragt.

Ist der russische Angriffskrieg in der Ukraine, seine Ursachen und Folgen, nicht ein Thema, das viel zu groß und gegenwärtig ist, um es in Kunst zu verwandeln? Tatsächlich sahen es etliche Künstlerinnen und Künstler so, die Kateryna Rietz-Rakul und Eleonora Frolov für ihr Projekt angesprochen hatten. Sie fühlten sich außerstande, etwas Neues dafür zu produzieren. Unter den 13 Positionen, die die beiden ukrainisch-stämmigen Kuratorinnen nun in dieser Ausstellung versammelt haben, sind prominente Namen, deutsche Künstler*innen und ukrainische - solche die in Deutschland leben, aber auch solche, die ihre Heimat nicht verlassen haben. Entsprechend vielfältig sind ihre Perspektiven und die Aspekte des Kriegs, die sie aufgreifen. Und nicht alle Beiträge sind neu. Ein Video von Mykola Ridnyi beispielsweise stammt aus dem Jahr 2008: Während im Hintergrund Männer in Badehosen am Schwarzen Meer sitzen und angeln, ist immer wieder das Geräusch von Kampfflugzeigen zu hören. Statt Geschossen aber landen direkt vor dem Objektiv der Kamera große glibberige Quallen. Fraglich ist, ob der Künstler diese Art von Humor heute noch an den Tag legen könnte. Aber im Kontext der Ausstellung steuert seine Arbeit nicht nur unvermuteten Humor bei, sondern verweist auch auf die Latenz des Krieges in diesem Teil der Welt.

Der Bogen, den die Kuratorinnen spannen, lässt sich exemplarisch an drei multimedialen Arbeiten ablesen, die zentral platziert sind: Ein utopisches – oder je nach Standpunkt dystopisches - Video von Dariia Kuzmych, das von einer Umwelt erzählt, die nur noch virtuell, ganz den individuellen Vorlieben angepasst ist (und für geopolitische Konflikte also vielleicht gar keine Veranlassung mehr bietet), während die Medienkünstlerin Hito Steyerl die Realität des Krieges in Computerspiel-Ästhetik überführt und eine Art 'Gedankenspiel' eines Computerspezialisten aus Charkiw entwickelt, der über einen russischen Angriff räsoniert – der dann auch erfolgt. Ganz anderer, nämlich dokumentarischer Natur ist dagegen die neue Arbeit, die Clemens von Wedemeyer zeigt. 2021 war er in Bachmut, im Osten der Ukraine, das derzeit heftig umkämpft und nahezu völlig zerstört ist.

Vor zwei Jahren aber gab es dort noch keine Kämpfe und der Künstler filmte an denselben Schauplätzen wie sein Großvater, der 1941/42 als Wehrmachtssoldat in der Stadt war, die die Sowjets in Artemiwsk umbenannt hatten. Auf den Filmen des Großvaters sind u.a. Ukrainer zu sehen, die mitten im Winter auf einem zentralen Platz sogenannte Ehrengräber für die Deutschen schaufeln. Daneben montierte Clemens von Wedemeyer außer seinen eigenen auch Aufnahmen, die ihm erst jüngst aus Bachmut geschickt wurden und die u.a. Schützengräben zeigen, die die ukrainische Armee gerade mitten im Ort ausgehoben hat. Es sind diese unterschiedlichen Zeitebenen – die Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, von vor zwei Jahren und jetzt – und ihre Parallelität, die Wiederkehr der Zerstörung, das Ineinandergreifen von Geschichte und Gegenwart, die diese Arbeit nicht nur erschütternd, sondern auch zu einem Schlüsselwerk innerhalb der Ausstellung machen.

Bildergalerie

Haus am Lützowplatz: "Früchte des Zorns Versuch einer Annäherung: Ukraine"

Den Krieg kommentieren, während er stattfindet

Was also vermag Kunst angesichts des Krieges? Aus der Summe der unterschiedlichen Aspekte, die die beteiligten Künstlerinnen und Künstler in dieser Ausstellung aufgreifen, ergibt sich – natürlich - kein Gesamtbild, doch die Ungeheuerlichkeit wird fassbarer. Die Ohnmacht bekommt Grenzen, wenn z.B. ein Künstler wie der Fotograf Boris Mikhailov - inzwischen Mitte 80 und lange schon wohnhaft in Deutschland - in die Vergangenheit seines eigenen Werks greift und eine frühe Arbeit, eine abfotografierte Projektion mehrerer Bildschichten, als "Prolog" einer Zusammenarbeit mit Shilo voranstellt, einer Gruppe von Fotografen aus Mikhailovs Heimatstadt Charkiw. Sie haben Fotos geschickt aus dem Krieg – kleine, analoge Schwarzweiß-Aufnahmen – die er für diese Ausstellung zusammengestellt hat. Sie wurden auf weiße Papierbögen abgezogen wie große und viele kleine Fenster, die uns auf den Krieg schauen lassen und seine schreckliche, aber auch - verstörenderweise - eine poetische Dimension enthüllen.

Silke Hennig, rbbKultur