Zineb Sedira: Dreams Have No Titles, Venedig Biennale 2022 © Zineb Sedira | Foto: Thierry Bal
Zineb Sedira | Foto: Thierry Bal
Download (mp3, 9 MB)

Hamburger Bahnhof - Nationalgalerie der Gegenwart - Zineb Sedira: Dreams Have No Titels

Bewertung:

Seit einem Jahr leitet das Duo Till Fellrath und Sam Bardaouil den Hamburger Bahnhof in Berlin - der inzwischen den Namenszusatz "Nationalgalerie der Gegenwart" trägt. Doch erst mit dieser Ausstellung zeigen sie ihre eigene kuratorische Handschrift, denn die multimediale Installation "Dreams Have No Titles" der franko-algerischen und in London beheimateten Künstlerin Zineb Sedira entstand für den französischen Pavillon auf der letztjährigen Biennale in Venedig, für den die beiden als künstlerische Leiter verantworlich waren.

Die Arbeit muss allen Beteiligten viel Spaß gemacht haben. Das jedenfalls ist der Eindruck, mit dem man die Welt, die Zineb Sedira in ihrer Installation eröffnet, wieder verlässt.

Kino als Dreh- und Angelpunkt

Es ist eine Welt, in der Rassismus und die Folgen des Kolonialismus eine große Rolle spielen, aber auch Musik, Tanz, Rollenspiel, Freude, Freundschaft - und Film. Sediras Liebe zum Kino ist Dreh- und Angelpunkt dieser komplex verzahnten Ausstellung. Sie führt das Publikum durch eine Abfolge von Kulissen: Ein Film-Schneidetisch, ein Tanz-Cafe mit Bar und einem Tango tanzenden Paar, ein Wohnzimmer mit 60er Jahre-Möbeln. Letzteres ist eine Kopie des wirklichen Wohnzimmers der Künstlerin. Es sind ihre Freunde, denen man von der Couch dieses "Kunst"-Wohnzimmers aus im Fernsehen zusehen kann, wie sie im echten Wohnzimmer Zineb Sediras über ihre Rassismus-Erfahrungen sprechen. Und es sind die Künstlerin selbst und ihr Freunde, die ikonische Filmausschnitte nachstellen.

Die Tango-Szene zum Beispiel, die vorne in der Ausstellung live zu erleben ist und ursprünglich aus Ettore Scolas Film "Le Bal" stammt, taucht hinten, hinter den verschiedenen Kulissen und Requisiten, am äußersten Ende der Ausstellungshalle wieder auf – diesmal mit der Künstlerin als Tangotänzerin, in einem Film auf großer Leinwand. Hier laufen die unterschiedlichen Motivstränge zusammen: Die Rolle des Kinos als Mittel politischer Bewusstwerdung ab den 1960er Jahren etwa, als Algerien, das Herkunftsland von Sediras Eltern, unabhängig wurde und sie selbst – Jahrgang 1963 – in Frankreich zur Welt kam. Als Kind, sagt sie, gehörte Demütigung aufgrund ihrer Herkunft zur alltäglichen Erfahrung.

Gestaltungsmacht über das eigene Leben

Damals fand sie Zuflucht im Kino. Heute erzählt sie davon mit filmischen Mitteln: Mithilfe von Montage, Dialogen, Kulissen, die sie im musealen Rahmen dekonstruiert, neu und anders präsentiert. Der französische Pavillon auf der letztjährigen Biennale in Venedig bot dafür mehr Intimität. Der Zauber war stärker. Im größeren Maßstab des Hamburger Bahnhofs jetzt wirkt die Installation "künstlicher", schärft aber den Blick dafür, wie sorgfältig Zineb Sedira persönliche und politische Erzählung miteinander verwebt. Man sieht sie tanzen und mit ihren Freunden feiern, ihr Leben wird Teil der Kunst und umgekehrt – in jedem Fall ein Gegenmittel gegen die fremdbestimmte Fremdheit.

Eine eigene Welt allen Widerständen und Widrigkeiten entgegensetzen - das ist die Essenz dieser Arbeit. Indem Zineb Sedira sich hier mit spürbarem Vergnügen alle Freiheiten nimmt, entlässt sie auch ihr Publikum beschwingt: Denn sie zeigt nichts weniger, als Gestaltungsmacht über das eigene Leben.

Silke Hennig, rbbKultur

Bildergalerie

Hamburger Bahnhof - Nationalgalerie der Gegenwart: Zineb Sedira - Dreams Have No Titles