Neue Nationalgalerie - Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin
Wann genau das derzeit im Bau befindliche Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts in Berlin eröffnen wird, ist noch ungewiss – 2026 war ursprünglich geplant, derzeit wird von 2028 ausgegangen. Welche Rolle das Werk das Gerhard Richters darin einnehmen soll, darauf allerdings gibt diese Ausstellung in der benachbarten Neuen Nationalgalerie schon jetzt einen Vorgeschmack. 100 Werke hat der Maler, bzw. seine Kunststiftung, dafür als langfristige "Dauerleihgabe" zur Verfügung gestellt.
Es sind zwar nicht alle "100 Werke für Berlin" zu sehen, aber es wird auch so deutlich, dass es sich nicht um eine Mini-Retrospektive oder einen gleichmäßigen Querschnitt durch sein enormes Schaffen handelt. Vielmehr ging es Richter offenbar darum, eine Art "Essenz" seiner Arbeit zur Verfügung zu stellen.
Birkenau-Zyklus
Zu sehen sind überwiegend Bilder der letzten zwei Jahrzehnte – bis hin zu leuchtend bunten Blättern ("Mood“") aus dem vergangenen Jahr, die mit Glasmalfarbe gemalt sind und belegen, dass der inzwischen hochbetagte Richter offenbar immer noch Neues ausprobiert.
Insgesamt besteht seine Leihgabe aus 40 großen Formaten, überwiegend abstrakt: Mit der Rakel aufgetragene und teilweise wieder abgekratzte Farblandschaften, Spiegel, Farbtafeln, ein mehrteiliges Computer-generiertes Streifenbild, sowie 60 kleine Bilder, darunter auch zahlreiche Foto-Übermalungen. Es sind nicht wirklich "Hauptwerke" - mit Ausnahme des Birkenau-Zyklus aus dem Jahr 2014. Dieser Zyklus war überhaupt der Anlass für die Gründung der Gerhard Richter Kunststiftung, denn anders als bei seinem "Stammheim-Zyklus", der mit dem RAF-Terrorismus ebenfalls einen gewalttätigen Abschnitt deutscher Geschichte verhandelt und heute dem Museum of Modern Art in New York gehört, wollte der Maler vermeiden, dass auch sein Birkenau-Zyklus in einer Privatsammlung oder im Ausland "verschwindet".
Neue Nationalgalerie: Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin
Reflexionsraum
Die Malerei erweitert Richter in dieser Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit zu einer Installation. Den vier großformatigen Gemälden stehen vier große, graue Spiegel-Paneele gegenüber und an den Schmalseiten des schlauchförmigen Raums hängen Reproduktionen der vier Fotografien, die Ausgangspunkt für diesen Zyklus waren: Vier Aufnahmen, die von einem Häftling heimlich im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau gemacht wurden und u.a. Leichenberge und nackte Frauen auf dem Weg zur Gaskammer zeigen. Der Maler hatte diese Bilder zunächst mit Kohle auf die Leinwände übertragen, dann aber verschwinden lassen unter Farbschichten, die er teilweise wieder abgekratzt hat. Eigentliches Thema dieser Arbeit wird damit die Frage, was Kunst zeigen kann und was nicht. Wer diesen Raum betritt, ist dabei unweigerlich auch mit sich selbst konfrontiert – im Spiegel gegenüber der Malerei, die hier zum Reflexions-Raum erweitert und ins Zentrum von Richters Schaffen gerückt wird.
Was ist das Eigentliche?
Interessant ist auch, dass Gerhard Richter seit einigen Jahren einige seiner Gemälde als Fotodrucke reproduzieren lässt. Auf diese Weise können zwei seiner berühmtesten Bilder, "Tante Marianne" und "Onkel Rudi", Bestandteil dieser Dauerleihgabe sein, obwohl die Originale dem Künstler längst nicht mehr gehören. Beide Bilder beruhen auf Familienfotos aus der Nazi-Zeit – die Tante wurde Opfer der NS-Eugenik, während Onkel Rudi in seiner Wehrmachtsuniform eher der Täterseite zuzurechnen ist. Sie stehen als frühe Beispiele, in der für Richter typischen verwischten, schwarzweißen Foto-Wiedergabe-Technik gemalt, für seine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Und indem er aus Gemälden, die auf Fotografien beruhen, wiederum Fotografien macht, stellt sich auch hier die Frage: In welchem Verhältnis stehen Medium und Motiv, Original und Reproduktion? Zeigen beide das Gleiche? Was ist das Eigentliche am Bild?
Er soll ein "Anker" innerhalb der Sammlungspräsentation werden.
Insgesamt erscheint diese Präsentation der "100 Bilder für Berlin" in der Neuen Nationalgalerie wie ein Gerhard-Richter-Museum in der Nussschale. Am künftigen Standort, im Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts, wird es sehr viel mehr auf Zusammenhänge auch mit der übrigen Sammlung ankommen. Der Künstler soll den Wunsch geäußert haben, dass seine Werke in wechselnden Konstellationen auch denen anderer gegenübergestellt werden sollen.
Wenn es bei dieser Offenheit bleibt, dann bietet die Dauerleihgabe sicher viele Anknüpfungspunkte. Sie stellt in jedem Fall kein "best of" dar, ist nicht auf "Highlights" angelegt, sondern auf ein tieferes Verständnis dessen, was diesen Maler lebenslang beschäftigt hat.
Silke Hennig, rbbKultur