Neuköllner Spitzen-Restaurant - Restaurant "Merold"
Das Team um den Tim-Raue-Schüler Jonas Merold kocht vegetarisch – aber unter Einbezug von Fleisch. Mit diesem Paradox setzt sich das Neuköllner Restaurant an die Spitze eines Trends, der von einem neuartigen Umgang mit pflanzlichen Stoffen geprägt wird.
Wenn im geräumigen Lokal am Zusammenfluss von Pflüger- und Pannierstraße die Menüposition 4 auf den Tisch gelangt, dann wundert man sich vielleicht, warum ausgerechnet eine derbe Bratwurst in die Komposition aus frittiertem Grünkohl, Senfkorn, Dinkel und Sellerie einbezogen wurde (Menü fünf Doppelgänge 52 Euro).
Zuvor hatte es einen superben, mit Knoblauch fermentierten Camembert sowie Steinpilz-Butter zum erfrischend säuerlichen, zugleich tief krustigen "Beutebrot" von Domberger Brot-Werk gegeben, dann Spitzkohl mit Sonnenblumenkernen, obendrein ein hausgemachtes Tempeh (der Anblick dieses Konglomerat aus fermentierten oberbayerischen Sojabohnen kam einer Puffreisschokolade gefährlich nahe) neben Esskastanien-Pilz-Ravioli, danach noch Desserts, die Topinambur mit Apfel und Raps beziehungsweise Steinpilz in einem Tiramisu vorführen.

Gemüse in wenig bekannten Zubereitungsweisen und Fermentationsstufen
In diesem Kontext, in dem einem Gemüse in eher wenig bekannten Zubereitungsweisen und Fermentationsstufen – eigenes Miso aus Kichererbsen, Kombucha und Sojasauce reifen in der Vorratskammer – begegnet, hängt sich das Schweinerne trotzdem nicht als Fremdkörper an. Vermutlich ist der Effekt einer leitenden Idee zuzuschreiben, die man als "vertikale Küche" beschreiben könnte. Dabei kommt es in erster Linie auf die oft mit Umami beschriebene Tiefe der Aromen an – und erst in zweiter Linie auf die Variationsbreite eines Gerichts.
Deshalb lohnt es sich "Sellerie/Dinkel/Kaffee" im Verein mit "Bratwurst/Grünkohl/Senf" näher zu betrachten.
Der Einfluss des Lehrherren Raue ist nicht bestimmend
Auf Merolds Lehrherren Tim Raue deutet erst einmal das Ausreizen der Möglichkeiten, die ein Grundstoff in sich birgt. So ist etwa das Gemüse-Thema im vierten Gang auf Sellerie konzentriert. Zunächst als in Scheiben geschnittene, wenig gegarte Knolle, die als eine Art Napfkuchen präsentiert wird. Diese Form täuscht darüber hinweg, dass zunächst die Zähne gefordert sind. Umso geschmeidiger dann dessen Sockel. Gebildet wird er aus einem kaum wässrigen, konsistenten Püree sowie einem intensiven Jus.
Vegetarische Bratensauce mit Kombucha und Dinkel
Die geschmackliche Lotrechte (und die tiefe Befriedigung, die sie gewährt) dieser vegetarischen Bratensauce beruht auf hohem handwerklichem Aufwand. Er gilt der Reduktion von Selleriesaft, dem Herauspräparieren von pflanzlichem Schmorgeschmack und schließlich der allmählichen Verfertigung von Kombucha aus Kaffee. Der geröstete Dinkel, obenauf gestreut, ist mehr als Dekoration. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die fermentierten Kaffeekirschen.
Dass das Getreide kein weiteres Ziel aufs Korn nehmen darf, kann man als Zeichen dafür werten, dass Raues Einfluss nicht bestimmend ist. Überhaupt fehlt Jonas Merold dessen Hang zur Rhetorik und zu anekdotischen Momenten.
Der zweite Teller der Menüposition: die hausgemachte Bratwurst
Undenkbar bei ihm auch eine allgemeine Mobilmachung der Zutaten, jenes Potpourri der Unentschiedenheit also, das unter dem Namen "Produktionstiefe" in der hochmögenden Küche grassiert. Deshalb wird der zweite Teller der Menüposition von einer hausgemachten Bratwurst frugal eingenommen. Das süßlich-satte Fleisch, lediglich grob gewolft, stammt vom Kleinbauernhof "Potsdamer Sauenhain" und wurde dezent mit Fenchelsaat, Sauerkraut und schwarzem Pfeffer versetzt.
Der Grünkohl daneben als auch die kaviareske, süß-saure Senfsaat weisen allenfalls darauf hin, dass trotz Fleisch weiter auf eine vom Vegetarischen abgeleitete Weise gekocht wird.

Zentrale Aromen
Angesichts von Speisen, die neben den zentralen Aromen so gut wie keine Nebenwege – etwa durch Gewürze, harte Fügungen oder Temperaturgefälle – einschlagen, könnte man bei Technik des Kochs aus Weiden in der Oberpfalz auch von Kadrierung sprechen. Tatsächlich wirkt manches Gericht wie ein Ausschnitt aus einem größeren Zusammenhang. Daher zuweilen der Eindruck des Unfertigen, des Improvisierten, der sich schließlich im Vorsatz mündet, das Restaurant unbedingt wieder zu besuchen.
Thomas Platt, rbbKultur