Nordic Cuisine auf italienisch in Prenzlauer Berg - "AV Restaurant Berlin"
Mit dem "AV Restaurant" ist ein neuartiges Genre hier angekommen: die Nordic Cuisine auf italienisch. Allerdings hat die vom dänischen Weltstar René Redzepi und seinem Kopenhagener Restaurant "Noma" maßgeblich propagierte Richtung in Inhaber Antonio Vinciguerra einen höchst eigenwilligen Vertreter in Berlin – und einen auf Anhieb überzeugenden dazu.

Seine Speisefolge in zehn Situationen (Menü 95, Weinbegleitung 60 Euro, Service nicht inbegriffen) lebt von der Spannung zwischen mediterraner Opulenz und der Kargheit des Nordens. Von dort stammen der Hang zur maritimen sowie regionalen Herkunft der Ausgangsstoffe und bestimmte Techniken, allen voran die enzymatische Umwandlung diverser Zutaten, während der Süden vor allem vor allem Temperament stiftet sowie mitunter Schärfe, Zitrus und Öl. Dass Vinciguerra Stereotypen konsequent ausweicht, ist hier ein wichtiges Gewürz.
Mediterrane Opulenz trifft auf nordische Kargheit
Während sich die Elemente bei den Speisen der dänischen Kochrevolution oftmals zueinander verhalten wie Worte ohne Gedanken, kann Vinciguerras international geschulter Stil für sich in Anspruch nehmen, in einem hohen Maß durchdacht zu sein. Das "AV Restaurant" erlaubt es zudem, die Kochkunst des Südens aus einer ganz anderen Perspektive zu erleben.
Entenbrust, Jacobsmuschel und Hummer
Bereits bei den süßen Pickles von Fenchel, Gurke, Möhre und Radieschen, die zu nur leicht dehydrierter Entenbrust sowie krupukartigen Chips aus Kartoffel und Pfeilwurzel gereicht werden, zeigt sich, dass vis-à-vis der Currywurstbraterei von "Konnopke" nicht alles und jedes demonstrativ fermentiert wird. Im Gegenteil - bei der Ringauster bleibt es lediglich beim spritzigen Akzent einer fermentierten grünen Tomate, die mit Apfel, Chili und Dillspitzen aromatisch alterniert.
Die sautierte Jacobsmuschel vereint dann exemplarisch die bestimmenden Einflüsse der Küche. Nduja, eine weiche kalabrische Rohwurst, bringt pfeffrige Schärfe und schmalzige Animalität in die Komposition, die japanische Sudachi-Zitrusfrucht sticht wie ein Rapier aus einer Vinaigrette. Der folgende Hummer aus Norwegen bezieht einen Teil seiner extrem zarten Textur vom italienischem Lardo, dem Marzipan unter den fetten Specksorten. Sein breites, beinahe behäbiges Aroma, erweitert durch crunchy frittierte Schweinehaut, will nicht recht von der Stelle. Doch es wird von marinierten Stachelbeeren regelrecht ermuntert und zu einer fast klassischen Hummer-Muschel-Bisque weitergetragen, in der ein Umamiton wie von Parmesan den tiefsten Punkt markiert.
Spezialisiert auf Naturweine
Das "Wildschwein, Quitte, Kastanie" überlässt sich dann doch noch den Gesetzen der konventionellen Nachbarschaft. Fleischfülle, Süße und der gegrillter Schwere von Maronen und einem süßsauren Püree davon, obendrein gesteigert von dunklem Bratenjus, sprechen dafür, dass beim sogenannten Hauptgang vor allem nichts schiefgehen sollte. Andererseits macht dieses Ergebnis von Routine bewusst, in welchen Weiten man sich mit dem übrigen Mahl begeben hat, ja bereits mit so etwas einfachem befunden hat wie dem mit Fenchelsaat gelockerten Vollkorn Orange Bread mit Knoblauch-Honig-Butter.

Und selbst das, was nicht ganz überzeugen konnte wie etwa das in Capelletti-Teigtaschen gefangene Hammelfleisch nebst geschmolzener Zwiebel, ist stets unterhaltsam, mindestens – zumal die Saalregie vom auf Naturweine spezialisierten Sommelier Amir Sinai Weisglass den kleinen Raum vor der offenen Küche mit einem Geist erfüllt, der keineswegs nur aus der Flasche stammt.
Thomas Platt, rbbKultur