Fine Dining am Gendarmenmarkt - Restaurant "Victor & Victoria"
Man kann diese neue Restaurantgründung als Plädoyer für die Verfeinerung verstehen und das Menü als Kompendium dessen, was die neuzeitliche Haute Cuisine so anziehend macht und ihr einen tiefen Sinn verleiht. Jede einzelne Speise im "Victor & Victoria" wirkt wie die Aufforderung, Aromen, Texturen und Temperaturen angelegentlicher als sonst nachzuspüren, ihren wechselseitigen Beziehungen auf die Spur zu kommen und im Hochgefühl etwas zu sehen, das über den Tag hinausreicht.

Das wie eine Flughafen-Lounge der ersten Klasse ausgestattete Interieur im "Victor & Victoria" und ein livrierter Service fördern eine mit Wohlbehagen verflochtene Konzentration.
Bereits mit den Amuse gueule-Miniaturen – filigran gearbeitet Tellerchen mit Teigröllchen, Tartar, Sardelle, Umami-Baiser, Dashi-Fond, marinierte Pilze, Pilzcreme, Auster, Lachs, Forellenkaviar, Limonenemulsion, geräucherter Stör, Kartoffelcroutons sowie Popcorn – sendet Küchenchef Stephan Krogmann starke energetische Signale.
Genussüberschreitung
Mit perfekt austarierten Gängen wie Limfjord-Makrele mit Bergamotte, weißem Rettich, Daikon-Kresse und Dashi oder der überragende Black Cod in Pastis-Sud mit Muschelragout, Selleriepuree, Fenchelhobel und Estragon Beurre blanc wird die Grenze dessen überschritten, was gemeinhin unter dem Begriff Genuss verstanden wird. Dies gilt umso mehr, als Patissier Giuliano Dellamaria mit seiner Moro-Blutorange samt Sauerteig-Chip vom Domberger Brot, Karamellrahm, Sucrine-Füllung und Süßholzsirup die einlullende Monotonie des Zuckers mit Chuzpe aufbricht.
Substanz
Bei dieser von enormem Vorstellungsvermögen, extremer Handwerklichkeit, großer physischer Hingabe und exzellenten Ausgangsstoffen geprägten Küche handelt es sich keineswegs um eine Marotte reicher Leute oder gar kulinarische Dekadenz. Dahinter steht Substanz. Gerade weil Krogmann und sein Team auf einem Gebiet operieren, das mit normalem Haushaltsessen keine Schnittmenge besitzt, versetzt sie den Speisenden in die Lage, die Erkenntnisform des Gaumens intensiv zu erleben.

Eine rigoros französisch orientierte Küche
Trotz der Namensgebung ist am Gendarmenmarkt keine Verwechslungskomödie zu erleben. Allerdings geht von dieser rigoros an der französischen Klassik des 20. Jahrhunderts orientierten Küche – nicht anders als bei großer Kunst – der Impuls aus, sich der Welt mit allen verfügbaren Antennen zu versichern. Ein mutiger Schritt angesichts des zeitgenössischen Trends, der mit beflissener Wortwörtlichkeit die mitunter armseligen Feldfrüchte der Region abzubilden sucht.
Thomas Platt, rbbKultur