Herausragende Küche in Berlin-Charlottenburg - "Anabelas Kitchen"
Manche Restaurants verharren im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung und oft auch im toten Winkel der Kritik, weil sie sich schwer einordnen lassen beziehungsweise sich dem Vergleich mit anderen entziehen. "Anabelas Kitchen" ist geradezu ein Paradebeispiel dafür. Mit konventionellen Kriterien und erst recht mit Sternen, Hauben und dergleichen Symbolen kommt man nicht weit, wenn man Speisen gerecht werden möchte, die zunächst rein vom Gefühl her in die Berliner Spitzenregion gehören.
Gleichzeitig erscheinen sie einem so vertraut, dass man bereits während des ersten Besuchs an der Einmündung der Bleibtreu- in die Pestalozzistraße eine Art Stammgastgefühl entwickelt.
Eine herzliche Beziehung zwischen Köchin und Gästen
Obwohl ihre Anabela Campos-Neves eine komplette Ausbildung absolviert und in exzellenten Restaurants gearbeitet hat, vermag man ihrer Arbeit am ehesten gerecht zu werden, wenn man sie weder aus ihrem beruflichen Werdegang noch aus ihrer mediterranen Herkunft ableitet. Ausschlag gebend ist die Beziehung der in Setubal geborenen Köchin – inzwischen fast 40 Jahre in Berlin, davon acht Jahre selbständige Restaurateurin – zu ihren Gästen.
Mindestens ebenso wichtig ist ihr fast zärtlich zu nennender Umgang mit den Zutaten. Und nicht zuletzt überzeugt eine offenkundig nie nachlassende Freude am Küchenhandwerk.
Ohne festes Menü den Geschmack der Gäste erspüren
Im Gespräch am Tisch stellt sie keine feste Karte vor, sondern lediglich Möglichkeiten, die sich mit dem Einkauf des Tages verwirklichen lassen. Gleichzeitig sondiert sie sozusagen die kulinarische Verfassung der Gäste – und es fällt leicht sich vorzustellen, dass sie dabei auch Impulse empfängt, die unterhalb der bewußten Artikulation liegen. Cum grano salis portraitiert Anabela Menschen, die sich ihr anvertrauen, mit den Mitteln der Küche.
Dass Anabelas intuitive Schöpfungen traditionellen Mustern nicht entsprechen möchten, legt bereits die schlicht als "Fischsuppe" angekündigte Löffelspeise mit einem gebratenen Carabineiro gigante im Zentrum nahe. Man mag sie getrost auch als kubistische Bisque bezeichnen. Denn sie hebt sich vom Geschmacksbild unzähliger Hummerauszüge in der Hochgastronomie durch eine kulinarische Vielflächigkeit ab, die gebrochen ist in vitale Stimuli, Verdichtungen und Intervalle.

Perfektionierte Detailkunst
Beim Schweinefilet mag noch die Esskultur in Westberliner Studentenlokalen ein wenig nachklingen, aber seine sekundengenaue Zubereitung verjagt die Nostalgie. Stets müssen zwei wache Augen auch auf rotem Spitzkohl, Karotte, auf gründlich gebutterter Fregola Sarda – im Ofen geröstete Graupen aus Hartweizengrieß – mit Schabziger sowie der Rotwein-Demi glace geruht haben. Nicht zuletzt an den wie Ghost Notes in die Komposition eingefügten Cima di rapa und glasierte Eiszapfen wird deutlich, dass die Kochkünstlerin ein unscheinbares Detail genauso in den Brennpunkt rückt wie ein Edelprodukt. Die souveräne Verteilung der geschmacklichen Gewichte, der verschiedenen Beschaffenheiten sowie Temperaturen – überhaupt die Anschlussfähigkeit aller Zutaten, Anabelas Fähigkeit, sie ins Ganze unprätentiös einzubauen – beeindruckt ebenfalls beim Zander auf schwarzem Reis mit Bärlauch-Tofucreme.
Das Flair eines kleinen Kabnietts
Liebevoll gerahmte Bilder, Zeichnungen und Andenken geben dem Lokal das Flair eines kleinen Kabinetts. Gerade auch, weil Anabelas Partnerin Marion Stoltz die Anwesenden mit hohem persönlichen Interesse versorgt, fehlt ihm zur Gänze die falsche Feierlichkeit solcher Orte.
Es sei ein schwerer Fehler, Anabela nicht gekannt zu haben, bekennt ein Berliner Spitzenkoch. Er dürfte für viele sprechen – jetzt und in der Zukunft.
Thomas Platt, rbbKultur