
Sachbuch - Andrea Wulf: "Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur"
Man merkt Andrea Wulf jederzeit an, dass sie von Alexander von Humboldt hingerissen ist, von seinem Leben, seinem Werk, seinem Denken – und seiner eigenen Begeisterungsfähigkeit in Sachen Natur. Wulf will ihre Leser anstecken mit seinem und ihrem Enthusiasmus.
Ihre – für den Epilog aufgesparte – Diagnose lautet, dass es daran fehlt: "Alexander von Humboldt ist in der englischsprachigen Welt weitgehend vergessen." Womöglich ist das mit Blick auf wissenschaftshistorisch interessierte Kreise eine leichte Übertreibung, es erklärt allerdings Wulfs enorme Motivation und die Perspektive, aus der sie schreibt.
Huldigung an Humboldts Leistungen
Naheliegenderweise platziert Wulf gleich zu Beginn einen guten Teil jener huldigenden Informationen zum Weltrang des Naturforschers, mit denen so viele Humboldt-Publikationen anheben, dass sie geradezu ein Standard-Narrativ geworden sind:
Humboldt, der Universalgelehrte. Humboldt, der als junger Mann auf der Südamerika-Reise lebensgefährliche Abenteuer bestand und auf dem Anden-Vulkan Chimborazo knapp unterhalb des Gipfels in 5917,16 Meter Höhe (Humboldts eigene Messung) mutmaßlich zum zeitgenössischen Weltrekord-Bergsteiger avancierte. Humboldt, der noch als 60-jähriger eine 15.000-Km-Entdeckungsreise durch Russland machte. Humboldt, den die Größten seiner Zeit verehrten, von Goethe über US-Präsident Thomas Jefferson bis Charles Darwin. Humboldt, der politische Kopf, der seinen Anteil an Simon Bolivars Revolution in den spanischen Kolonien hat. Humboldt, dessen 100. Geburtstag nicht nur in New York und San Francisco mit riesigen Paraden gefeiert wurde. Humboldt, nach dem Flüsse, Städte, Berge, Parks, Pflanzen, Tiere, Mineralien und auch das berühmte Mare Humboldtianum auf dem Mond benannt wurde. Humboldt, der Vater der modernen Umweltschutzbewegung. Vor allem aber: Humboldt, der die Natur erfand, wie wir sie begreifen – oder begreifen sollten.
Als der kleine Alexander durch die Wälder Tegels streifte
Denn das ist die geistige Klammer, die wesentliche Einzelheiten des beneidenswert ereignisreichen Lebens Alexanders von Humboldts zusammenhält: die Idee von der Natur als einem Zusammenhang, in dem von der geringsten Flechte über die Menschen und andere Tiere bis hinauf zu den Sternen alles durch Wechselwirkungen verwoben ist. Diese Idee durchdrungen und in vollendeter Plastizität dargestellt zu haben, darin liegt die unhintergehbare Modernität Humboldts.
Und Wulf zeigt gründlich, wie es dazu kam, seit der kleine Alexander, dessen Vater früh starb, dessen Mutter ihn durch Kälte abstieß, durch die Wälder rund um Schloss Tegel zu schweifen begann. Wer je im "Kosmos" oder in den "Ansichten der Natur" gelesen hat, weiß es ohnehin: Humboldt wollte immer mehr als bloß nüchterne Wissenschaft, die sich in Datenerhebungen, Berechnungen und Klassifizierungen erschöpft, er hielt unsere Gemütsregungen im Angesicht der Natur für absolut relevant. Die Außen- und die Innenwelt: Auch zwischen diesen sah er den Zusammenhang - und genoss ihn. Deshalb kann Wulf Humboldt zurecht als Gewährsmann für ihre ökologisch bewegte These aufrufen, dass wir letztlich "nur schützen werden, was wir lieben."
Auch Humboldt-Kenner dürften Neues lernen
Weil Wulf eine angelsächsische Perspektive auf Humboldt kultiviert, beschreibt sie seine Wirkung auf die Zeitgenossen auch am Beispiel von Schriftstellern, Naturforschern und frühen Umweltschützern, die hierzulande nur unregelmäßig im Humboldt-Diskurs auftauchen – vor allem Henry David Thoreau, George Perkins Marsh und John Muir. Dabei dürften auch Humboldt-Kenner manches Neue lernen.
Grundsätzlich eignet sich Wulfs Werk sehr gut zum Kennenlernen des erstaunlichen Mannes, zu dessen Schrullen es übrigens gehörte, in Gesellschaft unentwegt zu reden. Ein paar Redundanzen aus dem Geist der Begeisterung fallen - wenn man das Buch einer strengen Prüfung unterzieht - weniger ins Gewicht als die etwas oberflächliche Befassung mit wissenschaftlichen Details. "Darwin stand auf Humboldts Schultern", behauptet Wulf etwa – und Charles Darwin selbst würde gegen diese These gewiss keinen Einspruch erheben. Indessen ließe sich das Vorgreifen Humboldts auf die Evolutionstheorie und das Zurückgreifen Darwins auf Humboldts Natur-Verständnis genauer und eindrücklicher zeigen.
Aber das sind Abzüge in der B-Note. Der Rezensent gibt zu, aufgrund eines Zufalls unmittelbar vor Wulfs "Humboldt" Jürgen Neffes "Darwin. Das Abenteuer des Lebens" gelesen zu haben, ein außerordentliches, eine exzellentes Werk, das die Messlatte für populäre Wissenschaftler-Biografien enorm hoch legt. Wulfs "Humboldt" erreicht dieses Niveau nicht ganz, auch sprachlich nicht.
Das ändert allerdings nichts daran, dass man das Buch mit Lust liest und belehrt wieder aus der Hand legt. Für den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. war Humboldt "der größte Mann seit der Sintflut". Vorausgesetzt, dass der König das ironisch gemeint hat, kann man ihm nur beipflichten. Und bei Wulf erfährt man, warum das so ist.
Arno Orzessek, rbbKultur