
Gedichte - Maria Stepanova: "Der Körper kehrt wieder"
Vor zwei Jahren sorgte die russische Schriftstellerin Maria Stepanova mit dem 'Metaroman'
"Nach dem Gedächtnis" für Aufsehen. Höchste Zeit, dass sie nun auch als Dichterin - in Russland ist sie eine der wichtigsten Stimmen der Gegenwartslyrik – auf Deutsch entdeckt werden kann.
Mit "Nach dem Gedächtnis" veröffentlichte die 1972 in Moskau geborene Autorin, die schon als Mädchen zu schreiben begonnen hatte, eine Recherche nach der verlorenen Zeit ihrer weit verzweigten russisch-jüdischen Familie und eine scharfsinnig-skeptische Reflexion über das Erinnern im digitalen Zeitalter. 2018/19 war Stepanova zudem Siegfried-Unseld-Gastprofessorin an der Humboldt-Uni. Höchste Zeit, dass sie nun auch als Dichterin - in Russland ist sie eine der wichtigsten Stimmen der Gegenwartslyrik – auf Deutsch entdeckt werden kann.
Ich schreibe wie der Wind
Der Suhrkamp Verlag hat klug entschieden, für die Werkauswahl das russische Original und die deutsche Fassung von Olga Radetzkaja (für den Roman "Nach dem Gedächtnis" erhielten Autorin und Übersetzerin den Brücke-Preis Berlin 2020) nebeneinander zu stellen. Sprachkundigen erlaubt es, unter den Schleier von Radetzkajas in Bildlichkeit und Rhythmus starker, aber manchmal inhaltlich verengender Übersetzung zu schauen.
Stepanovas Lyrik ist abgründig, Sätze, gar einzelne Wörter brechen mitunter ab; in das hohe Lied der Totenklage mischt sich rauhbeiniger Slang. Um die Körper der Toten geht es Stepanova im ersten der drei Gedichtzyklen: "Der Körper kehrt wieder". Um die Kriegstoten, sogenannte Helden, ehemals marschierende Männer, die in der Erde neben dem Gemüse liegen:
"Wo sind sie, wo sind die Männer gleich Ares,
Die Dachstühle hoben und Tore sprengten,
Wo ist ihr Mark, wo die süßen Arme und Beine, die Zähne und Zungen,
Zerfallen in welche Elemente"
Die Dichtung selbst – "absurdes vieläugiges/ Wesen mit vielen Münder"“ - spürt die Triebe auf, die aus diesem Humus der Geschichte wachsen. "Poesia" ist auch im Russischen weiblich und so untot und rechtlos wie die Toten, nach denen sie wühlt: Sie "hat nicht mehr Rechte als all jene, die unter dem Strauch dort drüben liegen".
Gleich zu Beginn macht Stepanova ihren Nicht-Anspruch klar: "Ich schreibe wie der Wind", um doch – in umgekehrter alphabetischer Reihenfolge, von Z bis A – nichts Geringeres als die Auferstehung der gefallenen Gotteskinder zu imaginieren.
Was, wenn es der Dichtung gelänge, die Existenz der Toten sichtbar zu machen? Stepanova weiß sich in dieser kühnen Frage in bester Gesellschaft mit der dänischen Dichterin Inger Christensen, der kanadischen Lyrikerin Anne Carson und anderen Autorinnen; ihre Verwandtschaft mit Paul Celans untröstlich sinnlicher Körper-Sprache ist nicht zu überlesen.
Raubkunst im Echoraum
Die anderen Zyklen "Spolia" und "Krieg der Tiere und Untiere" stammen aus 2014 und 2015, als die "Russische Welt" die Rückeroberung der Krim und den hybriden Krieg im Donbass feierte. Spolien, das lässt sich leicht eruieren, sind Elemente oder Überreste älterer Bauten, die in neue Gebäude eingesetzt werden. Spolium bedeutet zugleich "Beute" oder "Raub".
Stepanova, um im Bild zu bleiben, "raubt" der russischen Literatur einige Helden: "In der 10er Straßenbahn/ Hat sich Puschkin wehgetan./ „Ende Schmende“, spricht er lallend, / Lässt ein Häuflein Beeren fallen –/ Toter Dichter, Demiurg,/ Kommst nicht mehr nach Petersburg!"
Gemeine Reime, Sowjetlieder, -paraden, -feste, Familienfotos vergangener Zeiten holt Stepanova in den Echoraum ihrer Dichtung, auch der Erlkönig hat einen Auftritt, bevor "aus der strafkolonie" das Erdwasser aus dem Gestein quillt. Eine lauscht, zeichnet alles auf, kann aber nicht für sich sprechen, hat kein "ich". Die Dichtung, die Erde, Russland, Ukraine? Einfache Antworten verweigern diese Gedichte.
Da ist
Besonders sprachspielerisch ist der dritte Teil "Krieg der Tiere und Untiere" (direkt übersetzt "Krieg der Tiere und Lebewesen"). Hier zeigt sich Maria Stepanova als große Lautmalerin, die ihre Motive Körper, Krieg, sinnlos gefallene Soldaten, Erde, Natur, Auferstehung in einem kaum übersetzbaren Totentanzlied verknüpft.
Was bleibt? Ein "hügel unter einer schneewehe", die "inschrift auf einem stein" – "nichts weiter". Da bleibt fast nichts. Und doch verbindet Stepanova im letzten Wort "hier" und "sein"; Olga Radetzkaja erfindet dazu – aus "da" und "ist" – das Wörtchen "dast". Ein unmögliches, trotziges Wort, flüchtig wie der Wind, aber da.
Natascha Freundel, rbbKultur