Roman - Jacqueline Woodson: "Alles glänzt"
"Red at the bone" - das ist auf Englisch ein Ausdruck für Dinge, die schwer verdaulich sind - wie große Gefühle zum Beispiel. "Red at the bone" - das ist auch der Originaltitel von Jacqueline Woodsons großartigem Roman - und ja, er erzählt von großen Gefühlen, aber schwer verdaulich ist er nicht.
In den USA ist Jacqueline Woodson eine Bestsellerautorin. Sie hat wichtige Preise gewonnen - allerdings meistens in der Kategorie Jugendliteratur. Sie lebt in Brooklyn und schreibt auch am liebsten über diese Welt, die sie kennt. Oft geht es um afroamerikanische Geschichte, um Geschlechterhierarchien und um Klasse. Schon in "Another Brooklyn", das ebenfalls auf Deutsch erschienen ist, entfaltet Woodson ihre Spezialität: das Erzählen in lebendigsten Szenen, in Fragmenten, die sich beim Lesen zusammensetzen.
Die zentrale Szene, die diesen Roman zusammenhält, scheint direkt aus der Kunstgeschichte entsprungen zu sein: Eine junge Frau schreitet eine Treppe herab. Bei Gerhard Richter und Marcel Duchamp waren diese Damen nackt, Jacqueline Woodsons Protagonistin trägt ein weißes Kleid.
Unterschiedliche Perspektiven
An ihrem 16. Geburtstag spielt ein Orchester im Haus, die ganze Familie richtet die Augen auf sie. Auch ihre Mutter Iris. Sie selbst hätte auch so eine Feier haben sollen, doch sie war damals schwanger. Das Kleid, das Melody trägt, hätte ihres sein sollen. Nach und nach entfaltet Jacqueline Woodson die Geschichten der anwesenden Familienmitglieder vor den Augen der Leserinnen und Leser. Und auch wenn sie den Blick alle auf Melody richten, ihre Perspektiven auf dieses Mädchen könnten unterschiedlicher kaum sein.
Da ist zum Beispiel ihr Vater Aubrey. Ein kluger junger Mann. Seine Mutter ist alleinerziehend, Drogen spielen eine Rolle, Lebensmittelmarken halten die beiden über Wasser. Für ihn ist die Tochter eine Art Rettungsanker, die Hoffnung auf eine neue Familie. Und da ist Iris: Melodies Mutter. Sie wollte nach der Geburt der Tochter nur eines: studieren, sich bilden und ein gutes Leben führen. Dafür verlässt sie Freund und Kind und hinterlässt eine Lücke.
Die Großeltern blicken ebenfalls auf das Kind. Sie haben die Sklaverei noch erlebt und alles dafür getan, ihrer Tochter ein gutes Leben zu bieten und dann das: die Schande, mit sechzehn ein Kind zu gebären.
Empathie und feinste Beobachtungsgabe
Beim Lesen kann man nicht anders: Man folgt den Figuren, ihrer Logik, ihrer Perspektive. Mit einer großen Portion Empathie und feinster Beobachtungsgabe lässt Woodson ihre Figuren von sich erzählen - das ist alles andere als schwer verdaulich, das ist feinste Kost.
Julia Riedhammer, rbbKultur