Lebenserfahrungen - Kent Nagano: "10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt"
Kent Nagano ist einer der international renommiertesten Dirigenten überhaupt. In Berlin war er für einige Jahre Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. Am 22. November wird er 70 Jahre alt, und im Vorfeld dazu hat er in Zusammenarbeit mit der Autorin Inge Kloepfer ein Buch mit Erinnerungen und Erfahrungen geschrieben.
Glücklicherweise ist das Buch bedeutend besser als der nach Kitsch und Lebensberatung klingende deutsche Titel "Was wirklich zählt". Mit den zehn Lektionen sind die zehn Kapitel des Buches gemeint, in denen Kent Nagano von Begegnungen mit Zeitgenossen erzählt – und auch darüber, was er von ihnen gelernt hat, sei es der Pianist Alfred Brendel im Kapitel "Wie ich lernte, einem Komponisten treu zu bleiben" oder der Singer/Songwriterin Björk mit "Wie ich lernte, den Zufall ernst zu nehmen".
Aufgeben zur richtigen Zeit
Die Beispiele stammen erwartungsgemäß überwiegend aus dem Musikbusiness. Ebenso spannend ist es jedoch, das Kapitel über den Physiker Donald Arthur Glaser zu lesen. Der hat mit 34 den Nobelpreis für Physik erhalten und sich mit Elementarteilchenphysik und Kernforschung beschäftigt. Dann hat er allerdings dieses Gebiet aufgegeben und sich anderen Bereichen zugewandt.
Viele seiner Kolleginnen und Kollegen haben darüber die Nase gerümpft, aber er wusste, dass er in Sachen Kernforschung nicht entscheidend weiterkommen würde. Und so steht sein Beispiel für "Wie ich lernte, dass aufzugeben eine hohe Kunst ist".
Der Einzelton zählt
Eine Begebenheit ist besonders plastisch zu lesen: Eine Zeitlang war Kent Nagano Assistent von Leonard Bernstein. Zur Vorbereitung auf ein Konzert unter Bernsteins Leitung mit Tschaikowskys "Pathétique"-Sinfonie spielten beide das Stück am Klavier durch. Bis Bernstein unterbrach und fragte, warum es an einer Stelle Fis und nicht As heiße, was vom Tonsatz genauso möglich wäre.
Nagano dachte zunächst, Bernstein wolle ihn prüfen, und es wurde ihm peinlicher und peinlicher, darauf keine Antwort finden zu können. Bis herauskam: Bernstein wusste es auch nicht. Aber Bernstein bestand darauf, diese Frage wenigstens für den Moment lösen zu müssen, ansonsten habe er nicht die Berechtigung, vor dem Orchester zu stehen und alles zu verlangen. Ein Beispiel für "Wie ich lernte, dass es keine endgültigen Antworten gibt."
Erfrischend anders
Dieses Buch ist erfrischend anders als manche Autobiografien, nämlich glücklicherweise nicht mit Anekdoten, biografischen Details oder gar Eitelkeiten vollgestopft. Die hier versammelten zehn Schlaglichter sind natürlich von Naganos Biografie geprägt, aber alles weist über das rein Private und sogar über das rein Musikalische hinaus.
Dabei gelingt es, auch für die musikalischen Laien verständlich zu schreiben. Manche Persönlichkeiten, denen Nagano begegnet ist, scheinen mitunter etwas zu ausführlich vorgestellt zu werden, aber man hat hier eben auch an diejenigen gedacht, die nicht schon alle kennen und alles wissen. Ein Buch – barrierefrei und dazu noch sehr unterhaltsam.
Andreas Göbel, rbbKultur