Commissario Brunettis 31. Fall - Donna Leon: "Milde Gaben"
Donna Leon, geboren in Montclair/New Jersey, hat es vor vielen Jahren in die weite Welt verschlagen. Sie war Reiseleiterin in Rom, Werbetexterin in London und Lehrerin in der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien. Nachdem sie in ihre Wahlheimat Venedig zog, begann sie mit dem Schreiben der "Brunetti"-Romane, die in unzählige Sprachen (aber nicht ins Italienische!) übersetzt werden. "Milde Gaben" ist der 31. Fall für den sympathischen Commissario, der die griechischen Klassiker liebt.
Inzwischen lebt Donna Leon in der Schweiz, ist aber noch häufig zu Gast in Venedig. Sie kennt die Lagunenstadt in und auswendig, die dunklen Gassen und riesigen Paläste, die labyrinthischen Kanäle, versteckten Lokale und überteuerten Restaurants: Sie muss nicht extra hinfahren, um neue Ideen und Eindrücke zu gewinnen, aber alte Liebe (oder ist es inzwischen eine Hass-Liebe?) rostet nicht.
Sich selbst zu überzeugen, ob und wie Corona die Stadt verändert hat, kann nicht schaden. Denn die Pandemie ist im neuen Roman allgegenwärtig, auch wenn die strikte Abschottung und die Zeit des Lockdown sich langsam dem Ende zuneigt.
Venedig erwacht aus dem Tiefschlaf der Pandemie
"Milde Gaben" spielt nicht in einem fiktiven Venedig-Universum, sondern im Hier und Jetzt. So wie alle "Brunetti"-Romane auf aktuelle Vorgänge reagieren: Korruption, Intrigen, Menschenhandel, Atomschmuggel, Kunst-Diebstähle, Müllhandel, der weite Arm der Mafia.
Langsam erwacht Venedig aus dem Tiefschlaf der Pandemie. Die Masken fallen, erste Touristen strömen in die Stadt. Läden, die den Lockdown überstanden haben, öffnen ihre Pforten. Viele mussten aufgeben, andere haben mit miesen Tricks große Profite gemacht, Scheingeschäfte eröffnet, um Corona-Hilfen abzugreifen. Im "Gazzettino" kann Commissario Brunetti die ekligen Details über die Folgen der Pandemie nachlesen. Er hat genug Zeit zur Lektüre. Denn Mord und Diebstahl haben auf das Virus reagiert und gehen - noch - gegen Null.
Leon ist Großmeisterin der verwischten Spuren und falschen Fährten
Bis es für Brunetti wieder etwas zu ermitteln gibt, lässt er seinen Gedanken freien Lauf, liest seine geliebten griechischen Klassiker und versucht seine Gattin Paola zu beruhigen. Denn die Spezialistin für englische Literatur ärgert sich wahnsinnig darüber, dass an ihrer Universität eine junge Kollegin Karriere macht, die wissenschaftlich wenig leistet, aber die richtigen Kontakte hat und die alten Professoren um den Finger wickelt: Das rhetorische Geplänkel über den Geschlechterkrieg könnte ein erster Hinweis auf kommendes Unheil sein, dem sich der Commissario wird stellen müssen.
Auch wenn Tochter Chiara mit ihren schulischen Sorgen zu ihm kommt und wegen eines Referats mehr wissen über die "Orestie" und über Klytämnestra, die sich verraten und missachtet wähnt und zur blutrünstigen Rachefurie wird, verfolgt Donna Leon bestimmt einen literarischen und kriminalistischen Hintergedanken. Denn Donna Leon ist Großmeisterin der verwischten Spuren und falschen Fährten, des langen Anlaufs, der versteckten Andeutungen, des scheinbar Nebensächlichen, hinter dem sich ein Abgrund an Neid, Hass und Gier auftut.
Mühsam erwacht Brunetti aus der Melancholie
Diesmal spannt sie uns besonders lange auf die Folter: Wir sind bereits auf Seite 32, bis der mühsam aus der Melancholie erwachende Brunetti aus dem Mund einer ihn in der Questura besuchenden alten Bekannten einen Satz hört, der ihn aufhorchen lässt. Elisabetta Foscarini ist besorgt um ihre Tochter Flora, eine Tierärztin, verheiratet mit Enrico, einem Steuerberater und Buchprüfer. Nach einem Streit hat er "etwas gesagt, das sie das Schlimmste befürchten lässt."
Was genau das sein soll, kann sie aber nicht benennen. Es dauert weitere 10 Seiten, bis Brunetti der Freundin aus Kindertagen einen tiefen Seufzer entlockt: "Ich fürchte, er tut etwas Schlechtes."
Brunetti als Wiedergänger des Mönchs aus "Der Name der Rose"
Brunetti hat keine Ahnung, was das ist und wonach er suchen soll. Aber sein Jagdfieber ist geweckt. Er schart seine engsten Mitarbeiter:innen um sich, den leutseligen Inspektor Vianello, die hartnäckige Kommissarin Griffoni, die Computer-Spezialistin Signorina Elettra. Bald schon haben sie den Verdacht, dass sie von Elisabetta nur benutzt werden, um hinter die Fassade einer - vermeintlich - menschenfreundlichen Dienstleistung zu blicken, Machenschaften und Verfehlungen ans Tageslicht zu fördern, die den Stolz und ihre Ehre von Elisabetta verletzen: Es geht um Betrug und Verrat, bei dem sie sich missachtet und zurückgesetzt fühlt, was ihrem Wunsch zuwiderläuft, andere zu beherrschen und wie Marionetten zu behandeln.
Brunetti begreift langsam, dass es nicht ums das geht, was tatsächlich von Elisabetta und anderen Befragten gesagt wird und offen zutage liegt, sondern um das, was sich nur dem offenbart, der zwischen den Zeilen zu lesen und Zeichen zu deuten vermag.
Als wäre Donna Leon eine Wahlverwandte von Semantik-Deuter Umberto Eco, macht sie Brunetti zu einem Wiedergänger des Mönchs, der in "Der Name der Rose" in der riesigen Bibliothek eines mittelalterlichen Klosters nach einem verschollenen Buch über die subversive Kraft des Lachens und die Gründe für eine Mordserie fahndet. Im Labyrinth von Venedigs Gassen und Kanälen findet Brunetti zwar keine versteckten subversiven Bücher, aber viele Menschen, die lügen und betrügen und - um Rachelust zu empfinden - bereit sind, sich und andere zu zerstören und zu opfern.
Ein Lesegenuss, dieses literarische Feingewebe
Wenn man nicht weiter weiß, ist es immer gut, der Spur des Geldes zu folgen. Und die führt Brunetti zu den "Milden Gaben", die Elisabettas Ehemann, Bruno del Balzo, den Armen und Notdürftigen zukommen lässt. Über eine von ihm gegründete Stiftung sammelt der Unternehmer Geld für ein Krankenhaus im mittelamerikanischen Belize. Doch kommen die Spenden dort wirklich an? Existiert das Hospital überhaupt? Und warum reist Bruno immer wieder in Begleitung seiner jungen und hübschen Finanzberaterin, und nicht mit seiner schmollenden und eifersüchtigen Gattin Elisabetta, rund um die Welt, um Spenden einzutreiben und - hoffentlich - Gutes zu tun?
Finanzielle Verführbarkeit und flüchtiges erotisches Begehren, hehre Versprechungen und verlogene Moral paaren sich zu einer gefährlichen, vielleicht tödlichen Liebschaft. Und Donna Leon weiß genau, wie man viele Erzählfäden erst heillos verknäult und dann filigran, spannend und intelligent wieder entwirrt: Ein Lesegenuss, ihr bei der leichthändigen Arbeit an diesem literarischen Feingewebe zu folgen.
Frank Dietschreit, rbbKultur