Roman - Eckhart Nickel: "Spitzweg"
Eckhart Nickels Roman "Spitzweg" ist ein Roman über Kunst, darüber, wie man Kunst begreifen, sich ihr anverwandeln kann: ein Kunstwerk eigenen Grades. Es kommt hier natürlich auch Carl Spitzweg vor, aber nur wenig aus dessen Leben.
Vielmehr geht es hie und da um Gemälde von ihm, vor allem um das Bild "Hagestolz", das auch das Cover dieses Romans ziert: Ein Mann im schwarzen Mantel und mit einem Zylinder auf dem Kopf, den man in einer hügeligen Wiesenlandschaft nur von hinten sieht und wie er dabei ein Liebespaar auf einem Weg weit vor ihm zu beachten scheint.
Dann ist da das Bild "Der verbotene Weg", das mit dem "Hagestolz" korrespondiert, wie man in diesem Roman erfährt. Schließlich taucht irgendwann auch das Spitzweg-Bild "Gähnender Wachposten" auf, das ein ganz spezielles, friedliches ist, hat der Biedermeier-Regisseur doch sehr viele Wachtpostengemälde gemalt.
Turbulente Handlung
Von einer wirklichen Geschichte lässt sich hier nicht sprechen. Dafür hat der Roman eine durchaus turbulente Handlung mit einigen Seitensprüngen und Abschweifungen. Es geht um drei Schüler, die kurz vor dem Abitur stehen: um den namenlosen Erzähler, seinen Mitschüler Carl, der mit großem C geschrieben wird, wie Spitzweg - klar, und um Kirsten. Sie bekommen eines Tages von ihrer Kunstlehrerin die Aufgabe, ein Selbstporträt anzufertigen. Als sie es vorzeigen, sagt die Lehrerin zu dem von Kirsten: "Ausgesprochen gelungen: Mut zur Hässlichkeit". Kirsten rennt dann entsetzt aus dem Schulzimmer, tief betroffen.
Carl und der Erzähler aber sichern sich das Bild, was Kirsten nicht weiß. Sie suchen Kirsten auf, finden sie, deren Eltern, vor allem deren Mutter, der Vater ist verschollen, und die drei hecken einen Plan aus: Die Jungs sollen Kirsten in der Schule als verschollen melden, um dem Lehrkörper eins auszuwischen.
Nur: Kirsten verschwindet dann tatsächlich, anders als gedacht, und dann machen sich die Jungs auf die Suche, in einem Park, einem Museum, auf eine wilde doppelbödige Verfolgungsjagd.
Kunstversteck
Carl entpuppt sich als jemand, der nur für die Kunst, in der Kunst lebt. Er wohnt in einem Turmzimmer, wo er sich ein Kunstversteck eingerichtet hat, das an Spitzwegs Zimmer aus dessen Gemälde "Der arme Poet" erinnert. Hier vernichtet Kirsten ein Gemälde, den "Hegestolz", in dem sie den schwarzen Mann ausschneidet, nur beim genaueren Hinsehen zu erkennen, denn hinter dem Gemälde hängt ein schwarzer Samtvorhang.
Dann gibt es da das Haus von Kirstens Eltern, das der Vater als ein sogenanntes Naturtheaterhaus gebaut und eingerichtet hat, in dem alles Natur sein soll, weil die Mutter an einer schweren Allergie leidet. Alles Künstliche, von Menschen Geschaffene, wird daraus verbannt. Natürlich ist dieses Naturtheaterhaus ein einziges Kunstwerk, nichts Artifizielleres als sowas - Natur hin oder her.
Auch großartig, wie Nickels Erzähler immer wieder auf die "Original-und-Fälschung"-Reihe zurückkommt, die es seinerzeit in der "Hörzu" gab. Auf der letzten Seite war ein Gemälde zweimal abgedruckt. Auf dem einen waren zehn Fehler eingebaut, zehn kleine Dinge, die nicht dem Original zugehörten, kaum erkennbar.
Kunst für die Kunst
Letztendlich weiß man in kaum einem Kapitel, ob Nickel sich nicht auch selbst an vielen Kunstwerken bedient hat, die er hier gar nicht nennt. Kapitel für Kapitel ist hier Kunst für die Kunst. So wie zum Beispiel das Haus eines Lehrers der drei Protagonisten, Dr. Fant, und dessen Bücherkeller. Auch dieser Keller mutet wie ein Kunstwerk an mit seiner lilafarbenen Gesamtausgabe von Proust, der gelben von Hugo von Hoffmannsthal oder der grasgrünen dtv-Taschenbuchgesamtausgabe von Goethe.
Nickel ist ein fantastischer Erzähler
Nickel ist wirklich ein fantastischer Erzähler. Das Künstliche der Atmosphäre, des Settings ist von Beginn an spürbar. Hier agieren ausschließlich Kunstfiguren. Es gibt kaum Anbindungen an konkrete Orte oder an eine Zeit, vermutlich sind es die 80er Jahre, tauchen doch hie und da Zitate von Bands wie The Fall, Morrissey, The The und Anne Clark auf.
Die Kunst, sie ist hier Lebensform und Objekt zugleich, ein Spiegel auf den Gründen der Seele und des Ichs. Bisweilen erinnert "Spitzweg" an die sogenannten Seestücke und andere Passagen von Proust. So wie dieser supersuperbe französische Schriftsteller, der vor 100 Jahren starb, Gemälde von Monet in Prosa übersetzt hat, er den Maler und seine Kunst literarisch transformiert hat, so macht Nickel das mit den Bildern von Spitzweg.
Gerrit Bartels, rbbKultur