Storys - Nicole Krauss: "Ein Mann sein"
Ihre Romane gehören nicht nur zum Besten der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur: Nicole Krauss schreibt Bücher von Welt. Denn die 1974 geborene Schriftstellerin ist in New York genauso zu Hause wie in Tel Aviv; ihre Romane greifen die jüdisch-osteuropäische Geschichte ihrer eigenen Familie ebenso auf wie die politischen Brüche der Gegenwart an vielen Orten. Jetzt ist ihr erster Erzählungsband erschienen: "Ein Mann sein".
Drei Teenager-Mädchen in einem Schweizer Pensionat und eine sexuelle Beziehung zu einem holländischen Geschäftsmann, die Missbrauch und Prostitution ist, aber auch ein Machtspiel zwischen der hungrigen 18-jährigen Soraya und dem besitzergreifenden Holländer. Lapidar "Die Schweiz" heißt die erste Story in diesem grandiosen Erzählungsband von Nicole Krauss.
To be a Woman
Sie macht klar: dieses Buch interessiert sich mindestens so sehr für das Frausein wie das Mannsein. Vor allem interessiert es sich für Selbsterkenntnis im Anderen, egal welchen Geschlechts. Erzählt wird die Geschichte im Rückblick einer der drei Freundinnen. Sie ist inzwischen Mutter eines 12-jährigen Mädchens, die genau jene gefährliche Neugier zeigt, die auch Soraya hatte: "ihre eigene Macht zu erproben, wie weit sie reicht und wo ihre Grenze ist."
Lesung: Nicole Krauss: "Ein Mann sein"
Man selbst sein
Frau-Werden ist ein zentrales Thema in diesen Stories. Etwa in "Endzeit", in dem die Hauptfigur Noa im Sommer vor ihrem letzten Schuljahr nicht nur mit der Scheidung ihrer Eltern zurechtkommen muss, sondern auch mit heftigen Bränden und ihrem Ferienjob in einem Blumenladen, der Hochzeitssträuße ausliefert, auch wenn sich die Feuer nähern. Dort die lässig absolvierte Scheidung der Eltern nach jüdischem Ritual, hier die übereifrig orchestrierte jüdische Eheschließung, dazwischen mutterseelenallein Noa. Bis sie sich vor dem Sohn des Rabbis auszieht, auf dass er sie erkennt: ihr erster Sex vielleicht der letzte Segen in einer brennenden Welt.
Endzeit und neues Leben
Endzeit schwelt über dem Mann-Frau-Mensch-Sein dieser Stories, die wie alle Romane der Autorin stilsicher von Grete Osterwald übersetzt wurden. Aber die Zeit kann auch mal wunderbar witzig aus den Fugen geraten: In "Der Ehemann" liefert der Sozialdienst einer Witwe in Tel Aviv einen angeblich verschollenen Ehemann – einen ungarischen Juden, Überlebender der Shoah. Auch wenn die Zeitbezüge nicht passen und die Witwe den Mann nie gesehen hat, nimmt sie ihn auf und überrumpelt damit alle, die alleinstehende Tochter in New York, den schwulen Sohn in Tel Aviv. Der erwartet gerade ein Baby von einer Leihmutter in Nepal. Als dann der unbekannte Ehemann das unbekannte Neugeborene im Arm hält, zeigt sich das überraschende, unplanbare Wunder des Lebens.
Mann und Mensch sein
Man kann mit diesen zehn poetisch dichten, glasklaren Erzählungen aus den zehn vergangenen Jahren weit reisen: nach Japan und Chile; natürlich nach New York, wo Nicole Krauss lebt, und immer wieder nach Tel Aviv, ihrer zweiten Heimat. Auch Berlin und die Begegnung mit einem deutschen Boxer und Zeitungsredakteur darf nicht fehlen. Aber zwischen diesen beiden stellt sich keine wunderbare Selbsterkenntnis im Anderen ein. Den Boxer, der auch ein diensteifriger Nazi geworden wäre, boxt der Text einfach weg. Lieber beobachtet die Erzählerin einen ihrer Söhne, der nicht erwachsen werden möchte und doch kein Kind mehr ist. Sie kennt ihn durch und durch, jede Faser, jeden Knochen; seine Zukunft kennt sie nicht. Nicole Krauss hat dieses Buch ihren beiden Söhnen gewidmet, Sascha und Cy - vielleicht, um ihnen zugleich die Frage zu widmen, was es heißt, ein Mann und Mensch zu sein.
Natascha Freundel, rbbKultur