Letztes Werk - Friedrich Christian Delius: "Die sieben Sprachen des Schweigens"
Nun ist es sein Vermächtnis geworden, Friedrich Christian Delius' letztes Buch "Die sieben Sprachen des Schweigens": Der Schriftsteller und Georg-Büchner-Preisträger ist im Alter von 79 Jahren in Berlin gestorben. Drei Geschichten aus seinem Leben stecken in diesem Werk - wichtige, lebensverändernde Stationen.
In der letzten Geschichte des Buches, "Lebensanzeige oder die Stimmlosigkeit der Stimmbänder", geht es um eine Virusinfektion, die sich Friedrich Christian Delius 2008 eingefangen hatte. Er musste künstlich beatmet werden und lag zwei Wochen im Koma. Ein Koma, das er damals ohne Nebenwirkungen und bleibende Schäden überstand, "die öde und verblödende Krankenhausexistenz", liest man jetzt bewegt, "provoziert deine Lebenslust".
Schweigen als "Markenzeichen"
Als er aus dem Koma erwacht, bemerkt er, dass er das Sprechen erst wieder lernen muss. Die Beatmungsmaschine hat ihm die Stimme geraubt. Doch das Schweigen war für ihn - und darum geht es leitmotivisch in allen drei Kapiteln - ein sehr wichtiger, lebensbestimmender Zustand. Das Schweigen, so erzählt er es, sei sozusagen sein "Markenzeichen" geworden; auch bei Treffen mit anderen Autor:innen sei er oft derjenige gewesen, der am stillsten war, der zuhörte.
Auch im Schweigen kommuniziert man. Leerstellen können bewusste Stilmittel sein. Ein Nichts sagt manchmal mehr als tausend Worte. An einer Stelle heißt es: "Es gibt das erzwungene Schweigen, das verordnete, defensive Schweigen für Anfänger oder das in vielen Varianten mögliche aktive Schweigen für Fortgeschrittene."
Die Arten des Schweigens
Delius versucht sich an einer Kategorisierung, listet sieben verschiedene Arten des Schweigens auf, u.a. das Schweigen aus Angst, aus Überlegenheit oder aus Faulheit.
Für seine literarische Biografie war das Schweigen von entscheidender Bedeutung. Er geht sogar so weit zu sagen, dass seine literarische Produktivität aus dem Schweigen kam. Die Vorstufe dabei war das Stottern. Als er fünf Jahre alt war, kam der Vater aus dem Krieg zurück. Der "Gefangenenvater", so heißt es hier, tauchte "von heute auf morgen" auf, etablierte sich als "Herr des Hauses mit der doppelten Autorität als Vater und Pfarrer."
Der kleine Junge reagierte mit Stottern. Weil ihm das so peinlich war, entschied er, dass es weniger peinlich war zu schweigen.
Delius blieb ein Schweigender
Im ersten Kapitel erzählt Delius von einem israelisch-deutschen Schriftstellertreffen im Jahr 1994. Auf der Tagung hielt er sich zurück. Zuhause, auch davon berichtet er hier sehr persönlich, scheiterte gerade seine erste Ehe, es erschien ihm "doppelt absurd und arrogant", als Autor über den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zu sprechen, "so lange ich nicht einmal Mittel wusste, den Frieden in der eigenen Wohnung herzustellen." Doch dann, als er "Ich war Isaak", ein Auszug aus der Erzählung "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" vorlas, bekam er den "herzlichsten und wärmsten Beifall", den er bis dahin gehört hatte.
Eine beeindruckende Vater-Sohn-Geschichte: Ein Elfjähriger, der Probleme mit dem autoritären Erziehungsstil des Vaters hat, stellt sich den Vater wie einen übermächtigen Abraham vor und vergleicht sich selbst mit Isaak. Auf der Schriftstellertagung konnten sich viele damit identifizieren. Und: Der Schweiger hatte alle mit seinem Text überrascht.
Ein Schweigender blieb Delius trotzdem oft, auch danach. Die titelgebende Geschichte erzählt von einem Spaziergang durch Jena. Während eines Schriftstellertreffens im Jahr 2003 läuft Delius auf dem Weg zum Restaurant neben dem ungarischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. Beide schweigen. Erst ganz am Schluss, kurz bevor sie ankommen, stellt Delius eine unverfängliche Frage. Doch vorher: ein langes Nichtgespräch, ein gemeinsamer Gang, bei dem nicht gesprochen, aber trotzdem sehr viel gesagt wird. Delius spürt in diese Stille hinein und merkt, dass es sich hierbei nicht um ein peinliches, sondern um ein einverständiges Schweigen handelt. Mehr noch, der stets gefragte Nobelpreisträger habe ihn bewusst "zum Begleiter gewählt", um "selber besser schweigen und zögern zu können", und ihn als erwünschten "Konversationsverhinderer, Plattitüdenvertreiber und Schweigeassistent" erkannt.
Ein sehr persönliches, eindrückliches letztes Buch
Ein sehr persönliches, eindrückliches letztes Buch, unterteilt in viele kurze Absätze, die jeweils nicht mit einem Punkt, sondern mit einem Gedankenstrich enden. Wie eine kleine Rebellion gegen die Interpunktion, die man auch von Friederike Mayröcker kennt - um dem Ende zu entgehen, um etwas weiterzutragen, fortwirken zu lassen.
Als Delius 2008, als er der "absoluten Stimmlosigkeit und dem völligen Verstummen" knapp entronnen ist, wieder am Schreibtisch sitzt, schreibt er eine Nachricht, dass er wieder zurück sei, an Freunde, Freundinnen, Anverwandte, Bekannte, Kollegen: Sie alle kriegen einen 12-zeiligen Kurzbericht unter dem Betreff: Lebensanzeige-
Anne-Dore Krohn, rbbKultur