Sachbuch - Andreas Sturm: "Ich muss raus aus dieser Kirche"
Andreas Sturm gehörte zu den mächtigsten Kirchenmännern in Deutschlands. Als Generalvikar in Speyer war er für Tausende von Mitarbeitenden und einen Millionenetat verantwortlich. Doch Andreas Sturm tritt aus der Kirche aus. "Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will", so lautet der Titel seiner schonungslosen Bilanz.
Hunderttausende haben der römisch-katholischen Kirche allein 2021 ihren Austritt erklärt, doch die Causa Sturm ist singulär. Denn Andreas Sturm war bis Mai 2022 Generalvikar des Bistums Speyer, also der zweite Mann hinter dem Bischof, ausgestattet mit fast allen Machtbefugnissen, die es in einer Diözese gibt, mit innerkirchlichem Prestige und gutem Einkommen. All das hat ihn aber nicht in der Kirche gehalten, sondern hinaus befördert.
Co-abhängig von der Kirche
Sturm fühlte sich zuletzt gerade wegen seiner hohen Stellung "co-abhängig" von der Kirche – das heißt, gewollt-ungewollt mitverantwortlich für die zähe Aufarbeitung unzähliger Missbrauchs-Skandale, für die Reformunfähigkeit und Bornierheit des Klerus, für die weltferne Sexualmoral, die Diskriminierung von Frauen, Homosexuellen und diversen Diversen und all den sonstigen Dingen, wegen derer die römisch-katholische Kirche in Deutschland auf steil absteigendem Ast ist.
Er empfand "Scham und Ekel für das, was wir als Kirche Menschen antun" – und trat kürzlich zu den Alt-Katholiken über, einer Abspaltung der römisch-katholischen Kirche, die viele Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils (1870) nicht teilt. An der alt-katholischen Kirche schätzt Sturm, dass sie zwar auch bischöflich verfasst sei, aber "gleichzeitig ganz auf synodale Strukturen setzt". Dass wiederum der viel diskutierte synodale Weg der römisch-katholischen Kirche in Deutschland zu wesentlichen Verbesserungen führt, glaubt er nicht.
Protokoll einer Entfremdung
"Ich muss raus aus dieser Kirche" ist das Protokoll einer Entfremdung. Nahezu alles, was wichtig war im Leben Sturms, hing "mit Kirche" zusammen (Sturm schreibt "Kirche" ohne Angabe von Gründen ohne Artikel). Deshalb hat er sie lange verteidigt und reflektiert nun in guter Büßer-Tradition die Mängel der eigenen Amtsführung und die Fehler im Umgang mit den Menschen. Das nimmt sogar ein bisschen überhand, so als wolle Sturm seine These von der "Co-Abhängigkeit" notorisch untermauern – aber es klingt niemals weinerlich.
In seinem Buch zeigt sich Sturm als zugewandter, mitfühlender und herzlicher Charakter, der sich zwischen den Anmaßungen der autoritären Amtskirche und den anderslautenden Forderungen seines Charakters, Gewissens und Glaubens zunehmend zerrieben fühlte. Erst recht, als er sich ab 2018 mit Missbrauchsopfern zu treffen begann, die ihn sinngemäß fragten: "Wo war Gott, als mich einer seiner Diener penetrierte?"
Programmatisch stellt Sturm seinem Buch einen Vers aus dem Johannes-Evangelium als Motto voran: "Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm." Es ist derselbe Vers, den Sturm zum Leitspruch seines Wirkens wählte, als er im Juni 2002 als Neu-Priester seine erste Messe als Hauptzelebrant gefeiert hat.
Der römisch-katholischen Kirche fehlt es an der Liebe zu den Menschen
Tatsächlich läuft Sturms Kritik, im Tonfall wohltemperiert, in der Sache unerbittlich, auf einen Punkt hinaus: Der römisch-katholischen Kirche fehlt es an der Liebe zu den Menschen – weshalb sie auch von der Liebe unter den Menschen nichts versteht. Sturm lehnt den Pflichtzölibat ab. Ihm ist nicht wichtig, ob Menschen, welchen Geschlechts auch immer, die eine Beziehung eingehen, Sex haben oder nicht – "ich will das auch gar nicht wissen" –, auf die Beziehung kommt es ihm an, auf gegenseitige Verantwortung und Fürsorge. Er hinterfragt die Dominanz von "Schuld' und 'Sünde" in der Verkündigung. Und vor allem rechnet er die weltweiten Missbrauchsfälle weniger dem persönlichen Versagen der Priester als vielmehr der inneren Verfasstheit der Kirche zu – und zitiert in diesem Sinne Bischof Heiner Wilmer: "Der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche."
Folglich ist Sturm davon überzeugt, dass "noch viel Schreckliches ans Licht kommen" wird.
Arno Orzessek, rbbKultur