Memoir - Lea Ypi: "Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte"
Was wissen wir über Albanien? Wie war es, dort in der Zeit des Systemwechsels um 1990 aufzuwachsen? Die Philosophin Lea Ypi, Professorin an der London School of Economics, wurde 1979 in Tirana geboren und erzählt in ihrem autobiografischen Buch "Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte", wie sie den Umbruch vom Sozialismus in den Kapitalismus in Albanien erlebte.
Vor allem erfahren wir viel über die Menschen in Albanien. Über Lea Ypis Großmutter, die mit ihr immer Französisch sprach. Über Ypis Eltern, die alle möglichen Ausreden erfanden, um kein Porträt von Staats- und Kommunistenführer Enver Hoxha im Wohnzimmer aufzuhängen, obwohl Tochter Lea sich so sehr wünschte, dass "Onkel Enver" auch bei ihnen an der Wand hängt. Stattdessen steht irgendwann eine leere Coca-Cola-Dose wie eine kostbare Vase auf einem Häkeldeckchen, verschwindet aber auch schnell und taucht plötzlich bei den netten Nachbarn auf, worauf ein erbitterter Streit ausbricht.
Menschen machen Geschichte
Ypi schildert Szenen des Alltags in allgemeiner Armut, erzählt von Praktiken des Überlebens: in den ewigen Schlagen vor allen Geschäften lassen sich die Menschen von Steinen oder Taschen vertreten. Die Eltern sprechen von Bekannten, die in B. oder S. "studieren" oder "ihren Abschluss" gemacht haben. Lea versteht erst nach dem Ende des sozialistischen Regimes, dass B. und S. Gefängnisse bedeuteten und der Studienabschluss ein "Geheimcode für die absolvierte Haftstrafe" war. Das Kind glaubte ohne jeden Zweifel an Freiheit und Gleichheit für alle im Kommunismus. Aber: "Meine Familie interessierte sich immer sehr für Leute mit Universitätsabschluss".
Lea Ypi schreibt das so lakonisch, als wäre sie wieder die 10-Jährige, die sich über ihre Eltern wundert.
Alte und neue "Freiheit"
Lea Ypi ist 12, als es in Albanien erstmals freie Wahlen gibt. Sie erlebt es als Einbruch des Zweifels. Als Umwertung aller Werte. Das Haus der Parteizentrale, erfährt sie, gehörte einst der Familie ihrer Mutter. Ihr Großvater hatte sich dort 1947 als vermeintlicher Staatsfeind aus dem Fenster zu Tode gestürzt, um der Folter zu entgehen. Bevor sie debattiert werden könnten, verschwinden zentrale Begriffe ihrer Welt: "Diktatur", "Proletariat", "Bourgeoisie".
"Nur ein Wort blieb übrig: Freiheit.“ Das war allgegenwärtig. "Aber als die Freiheit endlich kam, war sie wie ein gefroren serviertes Gericht. Wir kauten wenig, schluckten hastig und wurden nicht satt."
1991 fährt Lea Ypi mit ihrer Großmutter nach Athen, um noch einmal die Häuser zu sehen, die ihrer Familie in Griechenland gehört hatten. Lea hat dabei ein Reisetagebuch geführt, von dem sie so erzählt:
"Ich legte eine Liste aller Sachen an, die ich zum ersten Mal gesehen hatte […]: wie ich zum ersten Mal klimatisierte Luft an den Handflächen gespürt hatte; wie ich zum ersten Mal eine Banane probiert hatte; die erste Verkehrsampel; die erste Jeans; wie ich zum ersten Mal einen Laden betrat, ohne vorher angestanden zu haben; meine erste Grenzkontrolle; […] wie ich zum ersten Mal Leute sah, die angeleinten Hunden nachliefen, statt streunende Hunde, die hinter Leuten herliefen; […] Hauswände mit Werbeplakaten statt mit antiimperialistischen Parolen; die Akropolis, die wir aber nur von außen bewunderten, weil wir uns den Eintritt nicht leisten konnten. Ebenfalls hielt ich in meinem Tagebuch meine erste Begegnung als Touristenkind mit anderen Touristenkindern fest; wie ich mich darüber gewundert hatte, dass sie Odysseus und Athene nicht kannten, und wie sie gelacht hatten, weil ich noch nie von einer angeblich berühmten Maus namens Mickey gehört hatte."
Die Freiheit der Anderen
Hat Lea Ypi die ersehnte Freiheit in der sogenannten "freien Welt" gefunden? So einfach ist es nicht. Viele Passagen dem Buch sind gekonnt pointiert und lassen spontan auflachen. Etwa als ein niederländischer Vertreter der Weltbank auf einem ausgelassenen Nachbarschaftsfest unbedingt mittrinken und mittanzen soll, bis ihm der Kragen platzt und er wütend herumschreit: "Ich bin frei! Versteht ihr das nicht? Ich bin frei!"
Doch wenn Lea Ypi aus ihrem Tagebuch im Bürgerkrieg 1997 zitiert, gibt es nichts mehr zu lachen. Sie träumt von ihrem Schulabschluss, während die vertraute Umgebung in Militärgewalt, Chaos, Zerstörung versinkt. Ein kleines Land irgendwo am Rande Europas in einem schrecklichen, sinnlosen Krieg: es ist eine beschämende Leseerfahrung, wie viele blinde Flecken das so viel gepriesene friedliche Europa hat.
Die Freiheit, Marx zu lehren
Viele Albaner, die in den Neunzigern nach Italien fliehen wollten, wurden brutal zurückgedrängt. "Jetzt wurden wir nicht mehr im Namen unserer Regierung verhaftet, sondern im Namen anderer Staaten, deren Regierungen uns früher dazu aufgerufen hatten, in die Freiheit aufzubrechen."
Eine Philosophin mit diesen Erfahrungen wird Europas Grenzpolitik immer hinterfragen, stellt Ypi klar. Immerhin konnte sie selbst nach Italien gehen und Philosophie studieren, in Paris, Oxford, Stanford und Berlin forschen und lehren – und dieses starke, freimütige Buch schreiben und veröffentlichen. Sie findet dabei eine geradezu sommerleichte, lässig-pointierte Sprache. Dass sie heute Marx lehrt, obwohl die Eltern ihr jede Beschäftigung mit dem Marxismus verbieten wollten – auch das ist ihre Freiheit, mit der sie die Grenzen unserer Freiheit sichtbar macht.
Natascha Freundel, rbbKultur