Eine politische Biografie - Sergii Rudenko: "Selenskyj"
Mit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine ist die Friedensordnung in Europa zerstört, sind Freiheit und Selbstbestimmung in Gefahr. "Am 24. Februar begann der totale Krieg", sagt Wolodymyr Selenskyj, der ukrainische Präsident, der klarstellt, dass sein Land auch andere Völker verteidigt und im Kampf um die Freiheit vor allem eines braucht: Waffen. Doch wer ist eigentlich dieser Mann, der sich vom belächelten Schauspieler zum Widerstandshelden der freien Welt gewandelt hat? Wie konnte ein Komiker es schaffen, Präsident zu werden, welche Werte vertritt er, was sind seine Ziele? Vielleicht kann ein Buch weiterhelfen: "Selenskyj. Eine politische Biografie", verfasst von Sergii Rudenko.
Das Buch - 2021 in der Ukraine veröffentlicht - wurde angesichts des furchtbaren Krieges, der unzählige Menschenleben fordert und die politische Weltordnung ins Wanken bringt, noch einmal überarbeitet und aktualisiert. Rudenko ist politischer Journalist, hat keine Angst, sich mit den Mächtigen anzulegen und korrupte Seilschaften zwischen Medien-Stars, Politikern und Oligarchen aufzudecken.
Fortschreibung einer Biografie unter dem Eindruck des Krieges
Das war auch Rudenkos Absicht, als er seine "politische Biografie" als schnelle Reaktion auf den erdrutschartigen Sieg von Selenskyj bei der Präsidentenwahl im April 2019 anpackte. Er wollte herausfinden, wie ein Mann ohne jede politische Erfahrung und ohne eine funktionierende Partei es aus dem Stand schaffte, 73 % der Wähler:innen hinter sich bringen und die alte Nomenklatura in den Ruhestand zu schicken. Wie der Komiker aus dem Schatten seines TV-Alter-Egos Wasyl Holoborodko heraustreten konnte und tatsächlich seine TV-Partei "Diener des Volkes" zu einer realen Bewegung umformen und den Ukrainern glaubhaft versichern konnte, den korrupten Staat umzukrempeln und das Land in eine bessere Zukunft zu führen.
Rudenko hat unter dem Eindruck des Krieges die Biografie fortgeschrieben und zeigt uns einen Mann, der in den letzten Jahren einen weiten Weg zurückgelegt hat: "Vom Schauspieler zum Anführer der ukrainischen Nation" und "zu einem Politiker, für den man sich im Westen zum Applaus erhebt."
Vom Polit-Clown zum mächtigsten Mann des Staates
Chronologie ist seine Sache nicht. Rudenko sucht sich wichtige Stationen im Leben Selenskyjs in 38 sogenannten Episoden heraus, springt zeitlich vor und zurück, beschreibt zentrale Erlebnisse in einer Karriere, skizziert, wie aus dem unscheinbaren Possenreißer der unwiderstehliche Polit-Clown und schließlich der mächtigste Mann des Staates wurde.
Rudenko sucht nach Förderern und Verbindungen, benennt, wem Selenskyj seinen unaufhaltsamen Aufstieg zu verdanken hat, welchen Leuten aus Politik und Medien er lange Zeit verpflichtet war, bis er sie nicht mehr brauchte und fallen ließ wie eine heiße Kartoffel und sich zu Feinden machte, die bis heute auf Rache sinnen. Unzählige Namen tauchen auf, Interessen und Intrigen, korrupte Eliten und machtgeile Oligarchen werden benannt, die bis heute die Ukraine fest im Würgegriff haben und gegen die sich auch Selenskyj bis zum Ausbruch des Krieges nicht behaupten konnte: Vielleicht, weil er politisch zu schwach war, vielleicht, weil er - das legen geleakte Dokumente nah - selbst Teil des Systems war und viel Geld auf Offshore-Konten versteckte und gewaschen hat.
Privates, Klatsch und Tratsch interessieren Rudenko nicht
Rudenko wühlt im Dreck der schmutzigen Gegenwart, analysiert, wie das Amt den Menschen verändert und der Krieg aus einem ironischen Witzbold ohne jede Ideologie und Überzeugung einen ernsthaften Politiker mit festen Prinzipien gemacht hat.
Privates, Klatsch und Tratsch interessieren Rudenko nicht: Wer wissen will, wie es für den jetzigen Präsident war, in einer russischsprachigen jüdischen Familie im Industrieort Krywyj Rih aufzuwachsen, wofür er sich als Jugendlicher begeistert hat, welche Musik er gehört und welche Idole er verehrt hat: all das wird nur beiläufig angetippt und ist nur von Interesse, um anzudeuten, wie zielstrebig Selenskyj schon früh mit seinen Freunden und seinem Studio "Kwartal 95" an seiner Karriere gefeilt hat.
Die "95" ist für Selenskyj eine "magische Zahl": Er besuchte die Schule Nr. 95 in Krywyj Rih, die Selenskyjs wohnten im "Kwartal 95", dem Stadtviertel mit den Kennnummer 95, Wolodymyr schloss die Schule Nr. 95 im Jahr 1995 ab.
Als Wolodymyr sich neben seinem Jura-Studium begann sich für Tanz und Theater zu begeistern und nach ersten Auftritten in Sendungen wie dem "Klub der Witzigen und Schlagfertigen" eine eigene Komiker-Truppe gründete, nannte er sie "Kwartal 95", daraus wurde später das Medienunternehmen "Studio Kwartal 95", bei dem auch viele Jugendfreunde als Gag-Schreiber beschäftigt waren, die ihn bis ins Präsidentenamt begleiteten.
Mit dabei, als Drehbuchautorin, war auch immer seine Jugendliebe Olena Kijaschko, die er 2003 heiratete, und die aus allen Wolken fiel, als ihr Mann am Silvesterabend 2018 im einer TV-Sendung plötzlich bekannt gab, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Olena war strikt gegen den Wechsel von der fiktiven Fernsehwelt in die reale Politik, sie wusste, dass ihr Mann als politische Marionette des Oligarchen Kolomojskyj galt und es ihm sehr schwer fallen würde, sich von seinem zwielichtigen Paten zu befreien. Natürlich konnte sie damals noch nicht ahnen, dass ihr Mann von Putin zum Feind erklärt und - obgleich er Jude ist - als "drogenabhängiger Nazi" verunglimpft werden würde, den es zu vernichten gilt.
Prophezeiung
Es überrascht, wie viele Kulissenschieber und Spin-Doktoren, die Selenskyjs Weg an die Macht ermöglicht haben, inzwischen in Ungnade gefallen sind. Es ist verblüffend, dass bereits 2015 der Politikwissenschaftler Wiktor Bobyrenko in einen Aufsatz mit dem Titel "Warum Selenskyj der nächste Präsident wird" alles exakt vorausgesagt hat: dass Selenskyj die Rolle des Wasyl Holoborodko nutzen wird, um sich auf die Präsidentschaft vorzubereiten und die "Diener des Volkes" zu einer realen Partei machen wird, dass die stocksteife alte Politikergarde gegen den witzigen, charmanten Selenskyj keine Chance haben und im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen und hinweggefegt werden wird.
Bobyrenko hat übrigens jetzt in einem Interview prophezeit, dass der nächste Präsident Witalij Klytschko heißen wird, der ehemalige Boxweltmeister und jetzige Bürgermeister von Kyjiw, weil er die politische Klaviatur von Harmonie und Aggression beherrscht und nach dem Sieg über Putin am besten in der Lage sein wird, unter den Oligarchen, die noch immer im Hintergrund die Fäden ziehen, einen Konsens über die Zukunft der Ukraine herzustellen.
Die nächsten Wahlen sind 2024: man darf gespannt sein, ob die Prophezeiung eintrifft.
Frank Dietschreit, rbbKultur