Gegenentwurf zu Hannah Arendts "Vita activa oder vom tätigen Leben" - Byung-Chul Han: "Vita contemplativa oder von der Untätigkeit"
Ständig fühlen wir uns im Alltag rastlos, gestresst und überfordert. Sehnsüchtig warten wir auf den Urlaub und hoffen auf Erholung. Aber wir wollen auch in der Freizeit möglichst viel erleben, hetzen von einem Kultur-Event zum nächsten, checken ständig unsere Mails. Kaum aus den Ferien zurück, sind wir wieder im alten Trott. Warum können wir nicht mehr abschalten und das Nichtstun genießen? Und wie sähe unser Leben aus, wenn wir nicht immer aktiv handeln, sondern mal die Seele baumeln lassen? Vielleicht kann Byung-Chul Han darauf antworten.
Das neue Buch des in Deutschland lebenden koreanischen Philosophen kommt passend zur Urlaubszeit heraus und trägt den Titel: "Vita contemplativa oder Von der Untätigkeit". Es ist kein philosophischer Ratgeber dafür, wie man sich - ohne Gewissensbisse - dem süßen Nichtstun hingibt, sondern ein Plädoyer für das kreative Nichtstun, das sich der Welt des permanenten Handels und Wachstums widersetzt.
Die Fähigkeit zur Kontemplation muss wieder reaktiviert werden
Ratschläge, wie man sich den Anforderungen der Arbeitswelt, Ausbeutung und Selbstentfremdung des Kapitalismus entziehen und sich der Untätigkeit verschreiben kann, muss man sich aus den Befunden zu unserer Gesellschaft, die vor allem auf Leistung, Konkurrenz und reibungsloses Funktionieren basiert, selbst zusammenreimen. Han ist mit Essays zur "Müdigkeitsgesellschaft" bekannt geworden, hat die "Infokratie" und den "digitalen Schwarm" als Krise der Demokratie beschrieben und die "Agonie des Eros" bemängelt.
Nun behauptet er, dass Untätigkeit keine Negation und keine Verweigerung ist, sondern ein kreatives Vermögen, das uns abhanden gekommen ist, aber eigentlich den wahren Sinn des Lebens widerspiegelt. Die Fähigkeit zur Kontemplation muss wieder reaktiviert werden, um unserem Alltag neuen Glanz zu verleihen, die Erde zu retten und die globalen Krisen zu meistern. Er plädiert dafür, menschliches Handeln um ein kontemplatives Moment zu ergänzen: Nur so können wir die Zerstörung der Natur stoppen.
Politische Verweise, philosophische Exkurse, literarische Fundstücke
Begründungen - konkrete Belege, ökonomische Daten, politische Statistiken - gibt es bei Han nicht, dafür umso mehr politische Verweise, philosophische Exkurse, literarische Fundstücke.
Er besucht die alten Griechen und Römer, Platon und Sokrates, Cicero und Cato; bei Gesellschaftskritiker Karl Marx und Existenz-Grübler Friedrich Nietzsche schaut er vorbei; die Seins-Philosophien von Martin Heidegger und Hannah Arendt nimmt er ins Visier; Flaneur Walter Benjamin und Grenzgänger Theodor Adorno kennt er gut; aus der Literatur von Kleist und Kafka schält er die erotischen Vorteile des Schlafs und die kreativen Aspekte des Traums heraus; die Früh-Romantiker Hölderlin und Novalis besucht er in ihrem Elfenbeinturm, um das Nichtstun als Kern einer kommenden Gesellschaft herauszudestillieren und ein Ethos der Freundlichkeit und des Friedens zu beschwören.
Ohne Ruhe entsteht Barbarei, ohne Stille gibt es keine Musik
Vor Augen führt er uns, dass wir "das Leben nur noch auf Arbeit und Leistung hin wahrnehmen" und "Untätigkeit als Defizit" begreifen, dass unsere ganze Existenz von Tätigkeiten restlos absorbiert wird und wir vergessen haben, dass Untätigkeit eine eigene Logik und Pracht hat, eine eigene Sprache spricht und eigene Zeitlichkeit hat, eine Intensität, die in der Aktiv- und Leistungsgesellschaft nicht mehr anerkannt wird.
Weil wir immer etwas produzieren und konsumieren müssen, ist uns der Sinn für Ruhe und Stille abhanden gekommen, die Langeweile ist uns ein Graus: Doch ohne Momente des Zögerns und Innehalten sinkt das Handeln zur blinden Aktion, ohne Ruhe entsteht Barbarei, ohne Stille gibt es keine Musik, sondern nur Lärm und Geräusch: "Wo allein das Schema von Reiz und Reaktion, Bedürfnis und Befriedigung, Problem und Lösung, Ziel und Handlung herrscht, verkümmert das Leben zum Überleben. Das wahre Leben", schreibt er, "beginnt in dem Moment, in dem die Sorge um das Überleben, die Not des schieren Lebens aufhört. Der letzte Zweck menschlicher Anstrengungen ist die Untätigkeit." Klingt verlockend.
Wir müssen die permanente Selbstoptimierung einstellen und damit aufhören, alles zur Ware zu degradieren
Was tun? Wir könnten uns auf religiöse Rituale und die gemeinschaftsstiftende Wirkung von Festen besinnen, darauf, dass Gott, nachdem er die Welt erschaffen hatte, erst einmal am siebten Tag faulenzte und nichts tat, dass am Sabbat jede Tätigkeit ruhen muss und niemand einem Geschäft nachgehen darf. Wir müssen die permanente Selbstoptimierung einstellen und damit aufhören, alles zur Ware zu degradieren. In der kapitalistischen Ökonomie aber wird jedes Fest zum Spektakel und jeder Konsument zum isolierten Menschen, erweist sich digitale Kommunikation als eine Kommunikation ohne Gemeinschaft, kommt selbst dem Fasten und der Askese die kontemplative, festliche Dimension abhanden und dient nicht dazu, den Körper zu erneuern, sondern wieder fit für die Arbeit zu machen.
Wahres Glück aber finden wir nur im Zeremoniell der Untätigkeit, wenn wir flanieren, träumen, schlafen, denken, uns langweilen, auf nichts warten, einfach mal schweigen: Wenn unser Tun keinen Zeck erfüllt und zu nichts führt. "Die Langeweile", schreibt Walter Benjamin, "ist die Schwelle zu großen Taten", und Han meint, es sei gerade die "Unbestimmtheit, die uns dazu befähigt, etwas hervorzubringen, was noch nicht dagewesen ist, macht es möglich, dass etwas ganz Anderes entsteht."
Auseinandersetzung mit Hannah Ahrendts Denken
Der Philosoph der Untätigkeit selbst ist aber ein Vielschreiber, veröffentlicht jedes Jahr mindestens ein Buch. Diesen Widerspruch versucht er aufzulösen, indem er sich mit Hannah Arendt und ihrer Schritt "Vita activa oder Vom tätigen Leben" auseinandersetzt, dem Gegenentwurf, den er in den Orkus der Philosophie verdammen will, weil Ahrendts Denken jede festliche und religiöse Dimension fehle, sie von Begriffen wie Freiheit und Handlung wie beseelt sei, sie Leben mit Handeln gleichsetze und glaube, allein das politische Handeln beschere dem Menschen Unsterblichkeit und das Streben nach Ruhm sei das Movens alleinige der Geschichte. Wenn ein Denker die Erfahrung des Ewigen verlässt und zu schreiben beginnt, begibt er sich laut Arendt in die "vita activa", wird tätig und will Spuren des Gedachten für die Nachwelt hinterlassen, deren letzter Zweck die Unsterblichkeit ist.
Han hingegen meint, Schreiben kann auch Kontemplation sein, die nichts mit dem Streben nach Unsterblichkeit zu tun hat: Dem Schreiben geht "die Kontemplation als Weg zur Erkenntnis, zur Wahrheit voraus. Vita activa ohne vita contemplativa ist blind", und er ergänzt: "Das menschliche Dasein verwirklicht sich allein in der vita composita, nämlich im Zusammenwirken von vita activa und vita contemplativa."
Werdet untätig, rettet die Welt!
Die Zukunft der Menschheit hängt also nicht von der Macht handelnden Menschen ab, sondern von der Wiederbelebung des kontemplativen Vermögens, das nicht handelt: "Vita activa entartet zur Hyperaktivität und endet im Burnout, nicht nur der Psyche, sondern des ganzen Planeten, wenn sie nicht die vita contemplativa in sich aufnimmt." Werdet untätig, rettet die Welt!
Frank Dietschreit, rbbKultur