Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse © Hanser Verlag
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Roman - Patrick Modiano: "Unterwegs nach Chevreuse"

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Patrick Modiano ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Für sein schillerndes und umfangreiches Werk bekam er zahlreiche Auszeichnungen, 2014 den Literaturnobelpreis. Die Romane des in Paris lebenden Autors fördern oft verschüttete Erinnerungen zutage und wirken manchmal, als würden sie einen Text wieder lesbar machen, den jemand irgendwann mit unsichtbarer Tinte geschrieben hat. Sein neuer Roman trägt den Titel "Unterwegs nach Chevreuse“".

Wieder finden sich biografische Versatzstücke, die man glaubt, aus anderen Romanen von Modiano zu kennen. Manchmal scheint es, als schreibe er immer das gleiche Buch, als steige er immer wieder in seine Kindheit und Jugend herab und begebe sich - wie Marcel Proust - auf die "Suche nach der verlorenen Zeit". Aber ist es nicht ein Kennzeichen großer Künstler, dass sie sich immer wieder an ähnlichen Themen, Melodien, Bildern, Erinnerungen abarbeiten und das scheinbar Immer-Gleiche variieren und zu neuen Erkenntnissen und Kunstwerken kommen?

Modiano ist nicht das erste Mal "Unterwegs nach Chevreuse" ...

Wer Modianos Romane als Autobiografie versteht und die von ihm aus dem Vergessen ans Tageslicht gehobenen Details als literarischen Stadtführer durch Paris nimmt, hat seine Poetologie nicht verstanden, sein schriftstellerisches Verfahren, das dazu dient, Fakten in Fiktionen zu verwandeln. Das Paris der Romane ist nicht das wirkliche Paris, die biografischen Hinweise sind nur Anlass, sich eine neue, andere Biografie zu erfinden: Leben in Literatur zu verwandeln.

Modiano ist nicht das erste Mal "Unterwegs nach Chevreuse", einem Vorort, südlich von Paris. Er läuft nicht zum ersten Mal durch die "Rue du Docteur de Kurzenne", trifft nicht zum ersten Mal auf die rätselhafte Camille oder die geheimnisvolle Rose-Marie Krawell, auch der kriminelle Guy Vincent ist dem Modiano-Leser nicht unbekannt, nur dass er in einem anderen Roman Roger Vincent hieß. Aber: "Weißt Du", sagt Guy im Roman zum Erzähler, "von Zeit zu Zeit ändere ich meinen Vornamen."

Der Erzähler nennt sich diesmal Jean Bosmans, auch kein Unbekannter: Er tauchte zuletzt 2013 im Roman "Der Horizont" auf. Nur ist der Jean von heute nicht der von gestern, und seine Erinnerungen an die verlorene Zeit sind ganz andere.

Ineinander verschachtelte und übermalte Erinnerungen

Jean reist gedanklich zurück in seine frühe Kindheit der 1950er und dann in die späten 1960er Jahre, als er langsam erwachsen wird, die traumatischen Erlebnisse bei einer Pflegemutter in Chevreuse bleischwer auf ihm lasten und er sich nur mühsam von den Furien der Vergangenheit befreien kann.

Er schiebt dabei die Erinnerungen ineinander, verschachtelt und übermalt sie immer wieder, zweifelt, ob die Erinnerungen auf etwas Realem basieren, ob das, was er einmal über sein Leben geschrieben hat, überhaupt stimmt: "Er fragte sich, ob er in dem Augenblick damals wirklich gesagt hatte: 'Ich habe nie einen so schönen Frühling erlebt in Paris', oder ob es nicht vielmehr die Erinnerung an jenen Frühling war, die ihn heute, fünfzig Jahre später diese Worte hinschreiben ließ."

Die Erinnerung an den schönen Frühling wird geweckt durch eine Begegnung mit zwei jungen, verführerischen Frauen, die mit ihm eine Spritztour nach Chevreuse unternehmen, ihm ein leer stehendes Haus zeigen, das sie vielleicht kaufen wollen. Es ist das Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Jean erinnert sich wieder an den verwunschenen Garten und die quietschende Pforte, als wäre er im Roman von Proust gelandet, in einem Traum, aus dem er nur schwer erwachen kann.

Er ahnt, dass die beiden jungen Frauen ein gefährliches Spiel mit ihm spielen, dass sie wissen, was sich einst an diesem Haus zugetragen hat, sie ihn vielleicht im Auftrag von kriminellen Verbündeten aushorchen wollen, ob er mehr weiß über das Diebesgut, das seit Jahren im Haus versteckt sein soll, aber nie gefunden wurde.

Wo verläuft die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit?

Erinnerungen und Träume verbinden sich zu einer zwielichtigen, von Gespenstern und Einbildungen überlagerten Geschichte, die dem Erzähler noch heute Rätsel aufgibt. Befreien kann er sich nur, indem er die Vergangenheit in Literatur und die Menschen, die ihn damals bedrohten, in Fantasiegeschöpfe verwandelt, zum Gegenstand eines Roman macht, mit dem er zum Schriftsteller avanciert. Jean erinnert sich jetzt wieder, wie er damals aus Paris ans Mittelmeer floh, in der Tasche vielleicht das Geld, das im Haus versteckt war und von den Frauen und ihre dubiosen Auftraggebern gesucht haben, vielleicht: es bleibt im Ungewissen, wie so vieles bei Modiano, der sich nicht für Tatschen, sondern die Möglichkeiten interessiert.

Klar ist nur: Jean wird aus den Erlebnissen mit Mitte 20 seinen ersten Roman schnitzen, "Der schwarze Sommer", jetzt blickt er, viele Jahre später, noch einmal wie durch eine Milchglasscheibe auf diesen seltsamen Sommer und auf sein erstes Buch zurück und wird sich fragen, wo eigentlich die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit verläuft: Die Antwort bleibt offen.

Ein verspielter, verschlungener Roman, mit feiner Ironie und sprachlichen Leckereien

Die Verweise und Wiederholungen sind bei der Lektüre für Modiano-Fans ein zusätzlicher Reiz. Aber man braucht den literarischen Bonus nicht, um den Roman verstehen und in seiner stilistischen Eleganz und gedanklichen Tiefe genießen zu können. Es ist ein verspielter, verschlungener Roman, mit feiner Ironie und kleinen sprachlichen Leckereien gewürzt, ein Roman, der Morsezeichen der Erinnerung ins Heute sendet und die Vergänglichkeit des Lebens mit fotografischer Genauigkeit festhält: "Damals war er immerzu durch Paris gelaufen in einem Licht, das den Menschen, denen er begegnete, und den Straßen ein sehr kräftiges Strahlen verlieh. Dann hatte er im Älterwerden allmählich bemerkt, dass dieses Licht verkümmert war; es gab den Menschen und Dingen nun wieder ihr wahres Aussehen und ihre wahren Farben - die trüben Farben des Alltags."

Klingt abgeklärt und schmeckt herbstlich, ist aber auch wunderschön und voller Weisheit.

Frank Dietschreit, rbbKultur

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