
Erzählung - Annie Ernaux: "Der Platz"
Annie Ernaux ist eine der bedeutendsten französischen Schriftstellerinnen unserer Zeit. Ihr literarisches Werk ist weitestgehend autobiographisch. Nach den Romanen "Die Jahre" und "Erinnerung eins Mädchens" erscheint bei uns heute "Der Platz". Darin erzählt sie von dem Leben ihres Vaters und ihrer eigenen Herkunft.
Am Anfang des Buches: das Ende des Vaters. Die Tochter, Annie Ernaux schließt ihre Ausbildung zur Lehrerin ab und wird verbeamtet; zwei Monate später stirbt ihr Vater in "Y..." (eine Verkürzung von Yvetot in der Normandie, wo Arnaux aufgewachsen ist). Die Mutter erklärt von der Treppe herab: "Es ist vorbei." Die Hinterbliebenen bereiten die Beerdigung vor, während Nachbarn und Bekannte den Toten besichtigen und sich in Phrasen à la "Das hat mich ganz schön umgehauen" ergehen. Bald geht vom Verstorbenen ein "penetranter Geruch nach Blumen" aus, "die in einer Vase mit fauligem Wasser vergessen worden sind."
Ergreifend
Ernaux beschönigt in "Der Platz" gar nichts. Sie behauptet sogar, das Buch absichtsvoll ohne jegliche literarische Ambition geschrieben zu haben: "Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen." Das mag ehrlich gemeint sein – der Text selbst und seine Gestaltung laufen der Absicht, so etwas wie Normal-Sprache zu benutzen, nicht selten zuwider. Ernaux stellt einzelne Sätze frei und damit quasi aufs Podest: "Er liebte das Leben immer mehr." Sie bemüht a-reguläre, dramatisierende Großschreibung: "Immer die Angst oder VIELLEICHT DER WUNSCH, dass ich scheitere." Und oft schlägt die gesuchte Nüchternheit in ausgekühltes Pathos um. So auch am Sterbebett des Vaters, als sie Simon de Beauvoirs "Madarins von Paris" liest: "Ich konnte mich nicht auf die Lektüre konzentrieren, auf irgendeiner Seite dieses dicken Buches würde mein Vater nicht mehr leben." Ohne jemals sentimental zu werden, schreibt Arnaux also durchaus ergreifend – und sie beherrscht die stilistischen Register, die eben das ermöglichen. Entscheidend ist indessen, was sie erzählt.
Der Vater
Ernaux' Vater wurde nach ein paar Schuljahren Knecht und arbeitete nach dem Ersten Weltkrieg in einer Seilerei. Wenn die Sirene ertönte, hatte er tatsächlich für den weiteren Abend frei – ein Aufstieg, den Ernaux mit einer lakonischen Anspielung auf die neun Kreise der Hölle in Dantes "Göttlicher Komödie" kommentiert: "Dem ersten Kreis entronnen." Irgendwann lernte der Vater die Mutter kennen, "eine lebhafte, schlagfertige Arbeiterin", die sich jedoch für die Liebe "immer geschämt" hat. Das passte gut zum libidinös vorsichtigen Vater, der dem Vorsatz folgte, "sich nicht in einer Frau zu vergessen". Das Arbeiter-Ehepaar kaufte sich einen Laden für alltäglichen Bedarf; nun gehörte man zu den Händlern, blieb aber vorläufig in Armut: "Ständig Angst, die Bestände aufzuessen." Später ein Umzug, zum Laden kommt eine Kneipe. Und wieder der Rückzug nach Y..., ein anderer Laden, eine andere Kneipe. Irgendwann stellt sich ein gewisser Wohlstand ein. Doch die Eltern bleiben, was sie waren, insbesondere der Vater: ein sogenannter kleiner Mann, der in den klassenspezifischen Routinen des Handelns, Denkens und Sprechens gefangen ist, dabei fast restlos seiner Herkunft verhaftet: "Wir waren trotzdem glücklich. Mussten wir ja."
Unüberwindliche Zugehörigkeit zur unteren Schicht
Und das ist das Thema, das über die persönliche Geschichte des Vaters hinausgeht: Die Bannkraft der Herkunft, die scheinbar unüberwindliche Zugehörigkeit zur unteren Schicht. Unüberwindbar indessen nur für die Eltern. Die Tochter, Annie Ernaux, ist schon als Kind ganz anders – als wäre sie am falschen Platz geboren. Sie liebt die Bücher, sie denkt, sie lernt, sie bildet sich – und darüber reißt der Graben zwischen den Generationen unabsehbar tief auf: "Wenn ich Proust oder Mauriac lese, kann ich nicht glauben, dass sie über die Zeit schreiben, als mein Vater Kind gewesen ist. Seine Welt ist das Mittelalter." Als Ernaux geheiratet hat, bringt sie einmal ihren Ehemann mit nach Y..., einmal und nie wieder bis zur Beerdigung des Vaters: "Wie sollte ein Mann, der ins Bildungsbürgertum hineingeboren worden war, mit einer ironischen Grundhaltung, sich in der Gesellschaft rechtschaffener Leute wohlfühlen, deren Liebenswürdigkeit, die er durchaus sah, in seinen Augen niemals das entscheidende Defizit wettmachen konnte: die Unfähigkeit, ein geistreiches Gespräch zu führen." Die Überbetonung gehobener Gesprächsführung klingt ziemlich französisch, trifft aber gleichwohl den maßgeblichen Punkt: Annie Ernaux und ihr Mann bewegen sich in einem Kosmos, in dem das am meisten zählt, was die Eltern nie besitzen konnten, und weil sie es nicht konnten, nie besitzen wollten.
Ernaux beklagt sich nicht, auch wenn in der skizzenhaften Vermessung der Distanz zwischen ihr und ihren Eltern letztlich das Drama eines großen Verlustes auf beiden Seiten aufscheint. Und sie schiebt nicht wie Didier Eribon in Rückkehr nach Reims der Gesellschaft/dem System die Haupt-Schuld für die Entfremdung zu; sie spricht die Gesellschaft aber auch nicht restlos frei: "Beim Schreiben ein schmaler Grat zwischen der Rehabilitation einer als unterlegen geltenden Lebensweise und dem Anprangern der Fremdbestimmung, die mit ihr einhergeht." Ernaux legt nahe, dass ihr Vater im Grunde seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat, und zwar, indem er sich ein paar untere Stufen nach oben kämpfte. Für Weiteres fehlte ihm der Impuls und das Talent der Tochter, er stieß ständig an Grenzen und war außerhalb der engen Planquadrate seines Alltags orientierungslos: "Trotzdem immer etwas wollen, nur um etwas zu wollen, weil man im Grunde nicht weiß, was schön ist, was einem gefallen soll."
Abgrund zwischen Tochter und Vater
Der Sprung aus der Provinz in die Metropole, aus der Bildungsferne an die Universität, aus der Unterschicht in die Mittelschicht, aus den Routinen des Alltags ins Abenteuer des Lebens – die Tochter hat diesen Sprung gemacht, darin ganz Kind ihrer und noch mehr der nächsten Generation. Sie hat einen neuen Platz gefunden, obwohl sie der Vater, der seinem eigenen Platz im wesentlichen treu blieb, zu keiner solchen Mobilität erzogen oder ermuntert hat.
Alles in allem, ist es der Wille zur Bildung, zur verfeinerten Kultur, zum intellektuell Anspruchsvollen, der den Abgrund zwischen der Tochter und dem Vater aufreißt. Worüber Liebesbanden zerreißen und Zugehörigkeitsgefühle vergehen.
Arno Orzessek, kulturradio