Roman - Robert Menasse: "Die Erweiterung"
Für seinen Roman "Die Hauptstadt" ist Robert Menasse 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. Mit "Die Erweiterung" hat der österreichische Schriftsteller nun einen weiteren Europa-Roman vorgelegt. Darin erzählt er von zwei "Blutsbrüdern", die sich einander im Kampf gegen das kommunistische Regime in Polen verbunden hatten. Später wird der eine Ministerpräsident Polens, der andere macht in der Europäischen Union Karriere, zuständig für die Erweiterungspolitik.
Von Albanien hört man in letzter Zeit viel. Das lang so unscheinbare, irgendwie befestigt wirkende Land auf dem Balkan steht gerade hoch in den Charts. Vor allem den touristischen, von Geheimtipp kann da kaum noch eine Rede sein; aber auch den politischen: Albaniens Premierminister Edi Rama wird gerade nicht müde zu betonen, wie groß die Sehnsucht seines Landes nach Europa ist, wie sehr es in die EU strebt und alles dafür tut, um die Auflagen zu erfüllen und Beitrittsverhandlungen zu führen.
Der ultimative Albanien-Roman zum Hype
Den ultimativen Albanien-Roman zu diesem Hype hat nun der österreichische Schriftsteller Robert Menasse geschrieben. "Die Erweiterung" heißt er, ein offensichtlicher, sprechender Titel. Es geht um die Erweiterung der EU, um die Aufnahmen von Ländern des westlichen Balkans, darunter beispielsweise Nord-Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Albanien, die seit 2014 auf den Start ihrer Beitrittsverhandlungen warten. Hauptschauplatz von Menasses Roman ist Tirana, ein weiterer Brüssel, wo bekanntermaßen das EU-Parlament seinen Sitz hat.
Seit über einem Jahrzehnt engagiert sich der Österreicher Menasse für Europa
Der Stoff ist Robert Menasse gewissermaßen auf den Leib geschrieben. Seit über einem Jahrzehnt engagiert sich der Österreicher für Europa. In seinem Essayband "Der europäische Landbote" plädierte er für ein nationenloses Europa mit einer Zentralregierung und vielen Regionen. Ein paar Jahre später schrieb er mit "Die Hauptstadt" einen Roman, der nicht zuletzt bewies, wie gut sich Menasse in den Institutionen Brüssels auskennt. "Die Hauptstadt" erzählt vom Schicksal einer ganzen Reihe von Menschen, die in Brüssel für die verschiedenen EU-Institutionen arbeiten, für die EEA, für Europol, für das EuGH, für die Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission. Der ganze bürokratische Wahnsinn – allein diese abschreckenden Institutionsbezeichnungen!, das seltsam papierene Interessengeflecht, das vor allem durch seine (immer wieder in Frage gestellte) Idee eines gemeinsamen Europas zusammengehalten wird, all das bekommt in Menasses Roman Leben und Wirklichkeit ein.
Zu Recht bekam der Autor 2017 gleich auch den Deutschen Buchpreis für "Die Hauptstadt".
Einmal Europa, immer Europa
Einmal Europa, immer Europa: Menasse ist sich treu geblieben, nur hat er die Region und das europäische Sujet gewechselt. Er hat sich an den Rand begeben, eben nach Albanien. Beginnen allerdings tut der Roman in Wien, mit einem Prolog, genauer: einer Szenerie im Kunsthistorischen Museum Wien. Hier nämlich ist der Helm des albanischen Nationalhelden Gjergj Kastrioti Skanderbeg ausgestellt, ein Helm mit einem Ziegenkopf auf dem Scheitel, wobei fraglich ist, ob Skanderbeg ihn je getragen hat. Hier macht der junge Wächter der Rüstungskammer eine verblüffende Erfahrung: Der Helm, der wie viele andere Objekte kaum der Beachtung Wert, alles andere als ein Touristenmagnet ist, weckt unübliches Interesse, in einm kurzen Zeitraum verlieren sich gleich mehrere Menschen in seiner Betrachtung.
Ein gestohlener Helm
Warum dem so ist, wird im Verlauf des Romans offensichtlich: Der Helm wird gestohlen und bringt die mitunter verwickelte Handlung ins Rollen. In deren Mittelpunkt stehen zunächst Albaniens Ministerpräsident, immer nur ZK genannt, und einer seiner Berater, der Dichter Fate Vasa. Dieser nämlich rät seinem Chef, nachdem Frankreich wieder einmal ein Veto gegen EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien eingelegt hat, den Helm als Symbol für das geinigte Albanien zurückzufordern, für Großalbanien. Dazu gehören alle Albaner, egal wo sie in Mittel- und Osteuropa leben, ob in Griechenland oder Italien, ob in Nordmazedonien oder in Kosovo: "Politisch geeinte Albaner wären, wie Fate Vasa erklärte, eine europäische Macht, und ihr Anspruch auf ein gemeinsames Territorium und Selbstbestimmung befände sich in Übereinstimmung mit den grundlegenden Axiomen der Charta der Vereinten Nationen, den Artikeln 1,2 und 55."
Und, auch das flüstert Fate Vasam, seinem Präsidenten ein: "Zweitens wäre es die beste Antwort an Brüssel. Du erinnerst sie daran, dass Skanderbeg der Beschützer des europäischen Christentums gegen die Osmanen war."
Viele unterhaltsame Elemente - und dennoch ein weiterer sehr guter Europa-Roman
Doch ein gestohlener Helm kann schwerlich zurückgegeben werden, und Menasse inszeniert im folgenden eine heitere Verwechslungskomödie mit einer zweiten Helmanfertigung durch die albanische Regierung. Beide Helme gehen durch so einige Hände und landen am Ende auf der SS Skanderbeg, einem Kreuzschiff, das als Vorzeigeprojekt Albaniens gilt. Als es vom Stapel gelassen wird und seine Jungfernfahrt von Durres aus antritt, finden sich dazu europäische Spitzenpolitiker, hochrangige Funktionäre und Beamte und fast alle Figuren dieses Romans ein, von Menasse zu einem großartigen, knapp hunderseitigen Schlusstableau inszeniert.
Tatsächlich ist das Figurenensemble ein großes, und immer wieder wechselt Menasse die Perspektiven und Schauplätze, erzählt er die unterschiedlichsten Lebensgeschichten. Da ist der EU-Beamte Adam Pradower, der mit seinem einstigen "Blutsbruder" Mateuz abrechnen will. Mateuz hält von ihren gemeinsamen Idealen von früher gar nichts mehr jetzt; als Ministerpräsident Polens verfolgt er seine eigene europafeindliche Politik (und unglücklicherweise ist er in Poznan Gastgeber einer EU-Beitrittskonferenz); da sind der EU-Jurist Karl Auer und die Regierungsabgeordnete Baia Muniq, die so heißt, weil ihr Vater ein halbes Jahr in München war und dabei Fan von Bayern München wurde; da sind zwei österreichische Kriminalbeamte, die den Helmen nachforschen. Oder da sind Ismael Lani und Ylbere Lenz, er ein weiterer Berater des albanischen Premiers, sie Journalistin, beide mit einer komplizierten Familiengeschichte, die zum Teil tief in die jüngere Historie Albaniens führt.
Robert Menasse verbindet all diese Porträts und gegenseitigen Verwicklungen mit leichter Hand und einem Hang zum satirischem Unernst. Baia Muniq oder auch die Witzchen, die er mit dem Namen des leiblichen Vaters von Ylbere Lenz macht, Siegfried Lenz und seinen Deutschstunden in einem Lehrinstitut in Tirana, sind da nur die auffälligsten Beispiele; auch wie ZK, der albanische Ministerpräsident eine französische Journalistin empfängt, oder Adam Pradower sich ein Hündchen anschafft, sind große Lesespäße.
Die vielen unterhaltsamen Elemente täuschen jedoch nicht darüber hinweg, dass Menasse mit "Die Erweiterung" einen weiteren sehr guten Europa-Roman geschrieben hat.
Ein zutiefst politischer Roman in einem unterhaltsamen literarischen Gewand
Hier der Wille zur Gemeinsamkeit, dort die Schwierigkeiten zusammenzukommen, hier ein Land wie Albanien mit seinen landestypischen Eigenwilligkeiten von den "Gesetzen der Ehre" bis zu "Blutrache", das unbedingt in die EU will, dort eins wie Polen, das als EU-Land im Grunde nationalistisch denkt und zunehmend autoritärer gerät – Menasses Roman ist ein zutiefst politischer Roman in einem unterhaltsamen literarischen Gewand.
Dass das Kreuzfahrtschiff am Ende als Geisterschiff durch die Meere irrt, wegen einer Epidemie an Bord (Quarantäne!) nirgendwo anlanden darf, soll man wohl gleichermaßen als Mahnung wie als Fatalismus verstehen: Europa, wohin treibst du? Die letzte Meldung von Deck 8 lautet: "Die europäischen Werte". Und auch das marokkanische Tanger verweigert die Landeerlaubnis.
Gerrit Bartels, rbbKultur