Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw © Suhrkamp
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Nachrichten vom Überleben im Krieg - Serhij Zhadan: "Himmel über Charkiw"

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Am Sonntag wird der ukrainische Sänger, Lyriker und Romanautor Serhij Zhadan mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Wie er den Angriffskrieg Russlands auf sein Land und auf seine Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine erlebt hat – das ist in einem Buch nachzulesen, das der Suhrkamp Verlag sehr schnell anlässlich des Friedenspreises zusammengestellt hat. Es heißt "Himmel über Charkiw" und versammelt Facebook und Twitter-Nachrichten von Serhij Zahdan ab dem 24. Februar.

"Guten Morgen aus Charkiw, Freunde. Hier ist es sonnig, von Zeit zu Zeit heulen die Sirenen, aber der Himmel ist wunderbar und blau. Und schaut mal was für eine schöne Flagge über der Stadt weht."

Die ukrainische Flagge über der großen Stadt Charkiw – Serhij Zhadan wird nicht müde, sie wieder und wieder zu preisen. Seine Facebook und Twitter-Nachrichten sind Ermutigungen, Beschwörungen, nie aufzugeben, immer an den Sieg der Ukraine zu glauben, für den Sieg der Ukraine zu kämpfen – jede und jeder am eigenen Platz.

Zhadan - ein "alternativer Bürgermeister" Charkiws

Zhadan, der mit seinen 48 Jahren nicht daran denkt, das Image des jungen Wilden abzulegen, kämpft nicht nur als Autor und Sänger, also mit Wörtern und Punkrock für die junge, unabhängige, nach echter Demokratie strebende Ukraine. Er ist auch – wie er selbst sagt – ein "alternativer Bürgermeister" von Charkiw: mit seinen Freunden sammelt er Geld und Ausrüstung aller Art für die Armee; versorgt Bedürftige, vor allem alte Menschen und Kinder; vermittelt Kultur und Bildung; führt Gespräche mit Universitätsleitern und Studenten. Davon erzählt er seinen Followern auf Facebook und Twitter – manchmal mehrmals am Tag. Es sind Zeugnisse einer sagenhaften Solidarität und Hilfsbereitschaft unter den Charkiwern.

Die sozialen Netzwerke sind kein Ort für Differenzierungen

"Alles, was Tausende von kreativen, intelligenten Menschen geleistet haben, die in ihre Arbeit verliebt sind, wird derzeit komplett zerstört. Stattdessen stellen die Besatzer wieder Lenin-Denkmäler auf und führen in den Schulen russische Lehrpläne ein. Sie versuchen verbissen und ganz bewusst, uns in die Vergangenheit zurückzuziehen, die Zeit anzuhalten, die Geschichte zu überlisten. Es ist ein unverständlicher und selbstmörderischer Drang nach Unzeitigem und Abseitigem. Und dieser Drang ist nicht nur selbstmörderisch – er reißt uns mit in die Vergangenheit. Der Unterschied besteht nur darin, dass sie dieser Kreuzzug in die Vergangenheit offenbar berauscht. Wir dagegen brauchen ihn nicht mal umsonst."

"Die Russen sind Barbaren", sie sind "Verbrecher" – die sozialen Netzwerke sind kein Ort für Differenzierungen, auch nicht für den Lyriker Zhadan. Am 3. April, als die Toten von Butscha entdeckt worden sind, spricht Zhadan einmal mehr vom "Vernichtungskrieg" und "Jetzt nichts als Widerstand".

"Es gibt keine Worte. Einfach keine. Haltet durch, Freunde, morgen früh sind wir unserem Sieg wieder einen Tag näher."

Eine neue ukrainische Literatur für die Zeit nach dem Krieg

Aber Zhadan findet mehr und andere Worte. In einem nachdenklichen, selbstkritischen Nachwort erklärt er, hier ginge es nicht um Literatur, sondern "um die Wirklichkeit selbst". Um den Versuch, "das Vergessen selbst zu überlisten" und "uns dem Tod entgegenzustellen""dem völligen Schweigen". Der Eintrag vom 15. Juni 2022 zeigt, dass Zhadan schon dabei ist, eine neue ukrainische Literatur zu entwickeln, eine Literatur aus der Erfahrung dieses Kriegs für die Zeit danach:

"So viel ich auch von der leeren, wortlosen
Luft dieses Frühlings, der brennenden, sprachlosen Luft des Sommers schlucke,
es zeigt sich, dass die Sprache stärker ist als die Angst des Schweigens,
sie soll die Brusttaschen des Lebens füllen,
sie soll die Orte umfangen, wo Menschen zusammenkommen,
wo sie so über sich reden müssen,
dass man sie von nun an immer
an der Stimme erkennt."

Natascha Freundel, rbbKultur

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