Anuk Arudpragasam: Nach Norden © Hanser Berlin
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Roman - Anuk Arudpragasam: "Nach Norden"

Anuk Arudpragasam stand mit seinem zweiten Roman "Nach Norden" 2021 auf der Shortlist für den wichtigsten britischen Literaturpreis, den Man Booker Prize for Fiction. Jedes Jahr wird er an den besten Roman vergeben, der im Vereinigten Königreich erschienen ist. Bekommen hat ihn dann der südafrikanische Autor Damon Galgut für "Das Versprechen" über eine südafrikanische Farmerfamilie - doch Arudpragasam steht Galgut in nichts nach.

Es gibt auch durchaus Ähnlichkeiten zwischen den Romanen: In beiden spiegeln sich die gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes innerhalb einer Familie wider, in beiden wirken sich die politischen Verheerungen der Vergangenheit auf die Gegenwart der Protagonisten aus, und in beiden treten die Figuren in ihren Nöten wie Stellvertreter für ein ganzes Land auf, ohne dabei jedoch an Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit einzubüßen.

Eine Reise von Süden nach Norden - und tief ins Innere

Im englischen Original heißt das von Hannes Meyer ins Deutsche übertragene Buch "A passage north" – und mit der Übersetzung "Nach Norden" hat Meyer wunderbar das Thema des Durchgangs und Übergangs in den deutschen Titel übertragen. Denn Arudpragasams Roman handelt von Transitionen sowohl auf privater als auch auf politischer Ebene und erzählt von einer Reise, die nicht nur buchstäblich von Süden nach Norden stattfindet, sondern auch tief ins Innere reicht.

Von der Absurdität und Groteskheit eines zerrissenen Landes

Ein Telefonklingeln läutet den Anfang des Buches ein: Der junge Protagonist Krishan, der eigentlich gerade mit einer Email beschäftigt ist, die ihm seine Exfreundin Anjum geschickt hat, bekommt einen Anruf: Rani ist gestorben, die tamilische Pflegerin seiner Großmutter. Rani ist eine Frau aus dem Norden, schwer getroffen vom Tod zweier ihrer Söhne im Krieg, depressiv und entmutigt, doch als Pflegerin der Großmutter unersetzlich, aufopferungsvoll, eine Art Engel. Auch Krishans Großmutter hat einen Sohn im Krieg verloren: Krishans Vater, der bei einem Bombenangriff der Tamil Tigers ums Leben kam.

Allein die Verbindung dieser beiden Familien, deren Männer auf den verschiedenen Seiten des Krieges starben, und die sich in der Pflegekonstellation so nahe kommen, fängt die Absurdität und Groteskheit eines zerrissenen Landes ein. Wie Rani bei einem Besuch in ihrem Dorf im Norden starb, wird nicht aufgelöst, irgendwann wurde sie tot im Brunnen gefunden. Doch ob es ein Unfall war oder Mord, oder – was zwischen den Zeilen mitschwingt - ein Selbstmord, bleibt eine Leerstelle.

Kunst der Abschweifung

Krishan macht einen Spaziergang und beschließt, Rani die letzte Ehre zu erweisen. Er setzt sich in den Zug nach Norden, um an ihrem Begräbnis teilzunehmen. Viel mehr geschieht auf der Handlungsebene nicht: Ein Anruf, ein Spaziergang, eine Zugfahrt, ein Begräbnis. Doch Arudpragasam ist ein Erzähler, der erzählerische Umwege zum Prinzip gemacht hat, ohne dabei zu langweilen. Er habe, so hat er in einem Interview zum Bookerpreis gesagt, sich in diesem Buch an der Kunst der Abschweifung von Javier Marias und Thomas Bernhard orientiert, während er in seinem Debut "Die Geschichte einer kurzen Ehe" vorher Nadás und Beckett studiert habe und ihre mikroskopischen Analysen.

Arudpragasam schreibt mit großer Liebe zum Detail - dicht, hypnotisch

Meisterhaft, wie Arudpragasam schreibt: Mit großer Liebe zum Detail. Dicht, hypnotisch. In langen, fließenden Sätze. Ein Rhythmus wie fließendes Wasser, das überall hinfließt. Manche Sätze brechen unter der Last der Beobachtung fast zusammen, aber eben nur fast. Eine aufschlussreiche, nachdrückliche Prosa ohne direkte Dialoge. Und Arudpragasam versteht es, auch scheinbar banale Szenen mit Spannung aufzuladen: das Rauchen einer Zigarette, der Blickkontakt mit einem Fremden.

In Rückblenden erzählt Krishan von seiner Begegnung mit Anjum, die er in Delhi kennengelernt hat, eine bisexuelle, selbstbewusste Frau, der er schnell erlegen ist und der er immer noch hinterhertrauert. Arudpragasams Schreiben ist ein Beispiel dafür, dass man auch die alte Geschichte "boy meets girl" immer wieder neu, immer wieder knisternd erzählen kann.

Ein Buch, dem man volle Aufmerksamkeit wünscht

Die Spannung dieses Buches entsteht nicht zuletzt im Denken. Nicht nur im hochsensiblen Registrieren von Umgebung, Gesten, Kleinigkeiten, sondern der promovierte Philosoph Arudpragasam vermag es, eine Art philosophische Spannung zu schaffen, die den Reflektionen eines empathischen Erzählers entspringt, der sich und die Welt durchdenkt. Wie geht man mit jenen um, die vom Krieg getroffen wurden? Was sind wir anderen schuldig?

Eine mögliche Antwort: Wir schulden einander unsere volle Aufmerksamkeit. Diesem Buch wünscht man sie auch.

Anne-Dore Krohn, rbbKultur