Novelle - Dirk von Petersdorff: "Gewittergäste"
Wenn ein Gewitter droht, und das auch noch in einer Novelle, dann weiß man, dass sich etwas zusammenbraut. Tatsächlich übernimmt bei Dirk von Petersdorff das Wetter die Führung – oder vielmehr das Klima.
Es ist einer dieser heißen Tage in einem viel zu trockenen Sommer im Jahr 2019, wo mit der Schwüle auch das Krisenbewusstsein der Protagonisten wächst. Selbst die Corona-Pandemie ist unterschwellig präsent, wenn die "Gewittergäste" darüber räsonieren, wie schlecht Deutschland auf derlei Gefahren vorbereitet sei. Am Ende aber, wenn das Gewitter endlich mit aller Kraft losbricht, sind die Gäste von ihrem Streit und den novellengemäß außerordentlichen Ereignissen bereits ermattet und schnappen nur noch nach Luft.
Drohende Handgreiflichkeiten
Ort das Geschehens ist die Doppelhaushälfte von Jenny und Friedrich irgendwo in Thüringen. Die beiden Mittvierziger stammen eigentlich aus Norddeutschland, leben aber seit einem Jahrzehnt zusammen mit ihren beiden Söhnen im Osten, wo sie, obwohl durchaus aufgeschlossen, neugierig und grundsympathisch, immer "die Westler" geblieben sind.
Nun hat Jenny mit einem Berufskollegen und dessen Frau zwei "Ur-Ostler" aus Brandenburg zum Abendessen eingeladen, Ralf und Beate, die ihren Ressentiments gegen "den Westen", ihrem Hass auf die "Demokratur" und auf Angela Merkel freien Lauf lassen sowie mit steigendem Alkoholkonsum allerlei pegidahafte Verschwörungstheorien ins Gespräch werfen, so dass der Abend handgreiflich zu werden droht.
Leider sind die beiden Gäste aus dem tiefen Osten ziemlich klischeehaft geraten, und auch die dritte Besucherin, Friedrichs nach drei Jahrzehnten plötzlich wieder aufgetauchte Jugendliebe aus Düsseldorf, bleibt blass und liefert nur ein paar Stichworte und einige Erinnerungen an frühere Zeiten.
Der Ost-West-Konflikt, den der Lyriker und Literaturwissenschaftler von Petersdorff inszeniert, wirkt allzu abgedroschen, um erhellend zu sein, auch wenn er, der 1966 in Kiel geboren wurde und heute in Jena Neue deutsche Literatur lehrt, seine eigenen Erfahrungen als Westler im Osten gemacht haben mag.
Anwachsende Gewitterstimmung
Viel stärker ist der Text in den Passagen, in denen wenig passiert, wo es um Atmosphärisches und das allmähliche Anwachsen der Gewitterstimmung geht. Da wird geduscht, Erdbeermarmelade eingekocht, eine Quiche gebacken, während der Vater mit dem älteren Sohn in der nahegelegenen Kiesgrube Autofahren übt und die Drohne des Jüngeren sich in einem Baum verfängt.
In aller Feinheit werden die sich allmählich zusammenballenden Wolkengebirge beschrieben, die ersten Windböen und dann, nachdem endlich die Gäste eingetroffen sind, der Sturm, der die Äste von den Bäumen bricht, bis zu guter Letzt der lange vermisste Regen herunterrauscht.
Das Geschehen am Esstisch wird derweil durch unerwartete Gäste in immer groteskere Dimensionen getrieben. Da taucht ein syrischer Pizzabote auf, dessen Anwesenheit den Ur-Ossi von Neuem provoziert. Da erscheint wie eine mythologische Figur ein russischer Soldat, der sich auf den Spuren eines kurz vor der Wende hingerichteten Deserteurs befindet.
Und schließlich gerät – in Polen startet gerade ein Nato-Manöver – ein amerikanischer Kampfhubschrauber, der sich ins Gewittergebiet verflogen hat, in Turbulenzen, so dass schließlich auch noch zwei amerikanische Piloten die Abendgesellschaft bereichern. Doch all das bleibt – von der Aufregung abgesehen – ohne tiefere Konsequenzen.
Überschlagende Handlung
Dirk von Petersdorffs ist ein formbewusster Autor. Als Literaturwissenschaftler weiß er natürlich um die Gesetze einer Novelle und wendet sie mustergültig an. Auch die in seiner Lyrik erprobte Kunst, klassische Formen mit popkulturellen Inhalten zu füllen und daraus schöne Effekte zu gewinnen, wird sichtbar, wenn er die mit Anglizismen gespickte Jugendsprache nachzeichnet und Popsongs wie "All Along the Wachtower" zitiert.
Höhepunkt der immer unwahrscheinlicheren Ereignisse ist sicherlich der Moment, in dem Ostler und Westler gemeinsam "Universal Soldier" singen, während der russische Soldat vorsichtig dirigiert. So kollidiert das Erwartbare der Gewitter-Novellenhandlung mit überraschenden Volten, die zähe Ereignislosigkeit des Hitzetages mit sich überschlagender Handlung.
Auch der Erzählton kombiniert das Gegensätzliche, indem er in aller Ernsthaftigkeit und sprachlichen Präzision Komik und Übersteigerung produziert. Jenny sagt einmal: "Das Leben verlief nicht verkehrt, keineswegs, vielleicht sogar genau richtig, aber es war zu hoch dosiert. Zu viel Wollen oder Sollen und das eine vom anderen nicht zu unterscheiden." Genau das lässt sich auch über Dirk von Petersdorffs Novelle sagen.
Jörg Magenau, rbbKultur