Roman - Julian Barnes: "Elizabeth Finch"
Er hat Krimis geschrieben, historische Romane, Essays und Belletristik - damit ist Julian Barnes einer der vielseitigsten britischen Schriftsteller. Heute erscheint mit "Elisabeth Finch" sein 25. Roman. Dieses Mal hat es ihm der römische Kaiser Julian Apostata angetan, der im 4. Jahrhundert versuchte, den Einfluss des Christentums zurückzudrängen. Barnes interessiert sich vor allem für die Frage, was aus Europa geworden wäre, wenn Julian damit Erfolg gehabt hätte, und er schafft sich ein Romanpersonal, das für ihn diesen Fragen nachgeht.
Wenn dieser Roman ein Motto hätte, wäre es von dem Stoiker Epiktet und hieße: "Über das eine gebieten wir, über das andere nicht." Die moralische Direktive besteht für Epiktet darin, das eine vom anderen zu unterscheiden, um sich auf das zu konzentrieren, was beeinflussbar ist und sich von dem, was sich nicht ändern lässt, nicht ablenken zu lassen.
Als Stoikerin bezeichnet sich auch Elizabeth Finch, die dem neuen Roman von Julian Barnes zwar den Titel gegeben hat, die aber doch eine seltsame Heldin ist. Denn sie ist, als der Roman einsetzt, schon viele Jahre tot. Der Ich-Erzähler Neil, der nicht nur eine missratene Karriere als Schauspieler, sondern auch zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat, schreibt über sie: "Vor meinem geistigen Auge – dem Auge meiner Erinnerung, dem einzigen Ort, an dem ich sie sehen kann – steht sie übernatürlich still vor uns."
Eine verkappte Liebeserklärung
Er selbst war damals Anfang 30, Elizabeth Finch, die ein Seminar mit dem Titel "Kultur und Zivilisation" gab, vielleicht zehn Jahre älter. Die charismatische, eigenwillige Dozentin hat Neil mit ihrer geistigen Unabhängigkeit tief beeindruckt. Vermutlich ist das Buch, das er Jahrzehnte später über sie schreibt, eine verkappte Liebeserklärung.
20 Jahre lang haben die beiden sich streng ritualisiert zwei Mal im Jahr in einem Restaurant zum Gespräch getroffen, und doch bleibt die Lehrerin für ihn unnahbar und unbekannt, so dass er nach ihrem Tod kaum etwas über sie persönlich weiß. Aber er erbt ihre Bibliothek und ihre Manuskripte und macht sich daran, das große Forschungsthema von Elisabeth Finch zu entschlüsseln und den Essay den römischen Kaiser Julian Apostata zu schreiben, den sie nicht geschrieben hat.
Eine Forschungsarbeit in erzählerischem Rahmen
Dieser Essay bildet den zweiten von drei Romanteilen, und ein wenig wirkt es so, als habe Julian Barnes eigentlich über Julian schreiben wollen, seine Forschungsarbeit aber in einen erzählerischen Rahmen integriert. Flavius Claudius Julianus starb im Jahr 363 nach nur dreijähriger Regentschaft in der Schlacht. Da war er erst Anfang 30. "Apostata", den "Abgefallenen" nannten ihn seine Gegner und spätere christliche Geschichtsschreiber, weil er den christlichen Glauben aufgegeben hatte. Er orientierte sich eher am Neuplatonismus und an der griechischen Antike und versuchte, den Einfluss des Christentums zurückzudrängen.
Was wäre gewesen, wenn er nicht so früh gestorben und ihm das gelungen wäre? Hätte sich dann ein toleranteres Europa entwickelt, das nicht seine griechischen Wurzeln ausradiert und bis zur Renaissance in einer tausendjährigen Finsternis versunken wäre? Wo stünden wir heute, wenn sich nicht der Monotheismus durchgesetzt hätte?
Die Wirkungsgeschichte des Julian Apostata quer durch die Geschichte
Julian Barnes weiß auch, dass derlei Gedankenspiele zwar reizvoll, aber vergeblich sind. Mit seiner Figur Elizabeth Finch denkt er dennoch darüber nach, dass das, was sich historisch verwirklicht hat, immer nur eine von vielen verschiedenen Möglichkeiten ist, dass aber auch all die unterdrückten, vernachlässigten, ausradierten Möglichkeiten ihre Wirklichkeit und ihre Nachwirkung haben. Geschichte besteht nicht nur aus dem, was war, sondern immer auch aus dem, was hätte sein können aber versäumt wurde. "
"Warum sollten wir glauben", lässt er seinen Ich-Erzähler notieren, "dass unser kollektives Gedächtnis – das wir Geschichte nennen – weniger fehlbar ist als unser persönliches Gedächtnis?"
In seinem Essay untersucht Neil die Wirkungsgeschichte des Julian Apostata quer durch die Geschichte. Er zeigt, wie die christliche Tradition ihn in die Nachfolge von Judas, Pontius Pilatus oder auch gleich des Satans stellte, während er aber der Renaissance und dann erst recht in der Aufklärung zum Inbegriff eines philosophischen Herrschers und aufgeklärten Monarchen wurde. Allerdings galt er auch als großer Anhänger von Tieropfer, Wahrsagerei und Zeichendeutung. Das Problem dabei: Was ist ein Zeichen? Ist das Gewitter bloß Gewitter oder göttlicher Ratspruch? Und welcher der widerstreitenden Deutungen wäre zu glauben?
Hochinteressant, erzählerisch aber eher gescheitert
Julian Barnes interessiert sich für solche Widersprüche und das Uneindeutige in der Geschichte und in den Menschen. "Elizabeth Finch" ist der Roman einer unerklärten Liebe und eines historischen Faszinosums. Er ist stofflich hochinteressant, erzählerisch aber eher gescheitert. Allzu blass bleibt der Ich-Erzähler, allzu unnahbar seine Lehrerin, und die Handlung ist nicht viel mehr als ein durchsichtiges Mäntelchen, das Barnes seinem historischen Essay umgehängt hat.
Hochinteressant und spannend zu lesen ist "Elizabeth Finch" aber dennoch.
Jörg Magenau, rbbKultur