Amalie Skram: Die Leute vom Hellemyr (4 Bände) © Guggolz Verlag
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Norwegische Familiensaga - Amalie Skram: "Die Leute vom Hellemyr"

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In Norwegen wird sie bewundert wie bei uns Thomas Mann oder in Frankreich Honoré de Balzac: die naturalistische Schriftstellerin Amalie Skram, geboren 1846 in Bergen in Norwegen. Der kleine Berliner Guggolz Verlag hat sich die große Aufgabe vorgenommen, ihr Hauptwerk "Die Leute vom Hellemyr" erstmals vollständig ins Deutsche übersetzen zu lassen.

Erst hatten sie kein Glück und dann kam auch noch Pech dazu – so müsste wohl die Kurzfassung der großen norwegischen Familiensaga der "Leute vom Hellemyr" lauten. Doch was sich da auf 1200 Seiten entspinnt, ist trotz, oder gerade wegen seiner Tristesse ein Meisterwerk, das man heutzutage wohl einen Pageturner nennen würde und das Stoff für eine ganze Netflix-Serie bietet. Über vier Generationen einer bettelarmen Familie lieben, intrigieren, morden, sterben, betrügen, leiden und kämpfen - und sie beten und hoffen auf einen Weg aus ihrer Misere.

Der Fluch der Familie

Ihren Anfang nimmt die Saga im frühen 19. Jahrhundert, auf dem Land um die alte Hansestadt Bergen: "Der Hof hieß Hellemyr, das Felsenmoor, und den Namen trug er vollkommen zu Recht. Hier gab es nur Felsbrocken und sumpfigen Boden, eingegrenzt von den schwarzen nackten Bergen und dem dunkelgrünen Meer."

Im Hellemyr leben der Bauer Sjur Gabriel und seine Frau Oline mit ihren kleinen Kindern. Sie sind sogenannte "Strile", die ärmsten Landleute, über die sich die Städter mokieren. Bei jedem Wetter fahren sie raus aufs Meer, um ein paar Fische zu fangen, die sie auf dem Markt in Bergen verkaufen können. Trotz der harten Arbeit bleiben sie arm, und Oline trinkt: "Mit dem kleinen, ausdruckslosen Kindergesicht und der schwarzen Haube, die fest über der Stirn abschloss, ähnelte sie einem halberwachsenen Mädchen, das sich spaßeshalber als Frau verkleidet hatte."

Diese junge Frau wird zur Nemesis ihrer Nachkommen werden, sie wird als alte Frau nur noch als "Säuferline" bekannt sein, zur Lachnummer für die Städter und zur Angstfigur für ihre Kinder und Enkel, die versuchen, dem schlechten Ruf ihrer Familie zu entkommen.

Die Stimme eines Jahrhunderts

Eine von Norwegens wichtigsten Naturalistinnen, Amalie Skram, hat mit Oline und ihrer Familie der norwegischen Bevölkerung ihrer Zeit eine Stimme gegeben – von den ärmsten Bauern, bis zu den wohlhabendsten Damen und Herren des Bürgertums, deren Schicksale sie kunstvoll miteinander verwebt. Dabei schreibt sie explizit – und schockierend für ihre Zeit - über Sexualität, Fehlgeburten und frühen Kindstod, über Ehebruch, Machtmissbrauch und hemmungslose Gewalt. Doch zugleich entwickelt sie ihre Figuren unheimlich humor- und liebevoll, geht immer wieder in ironische Distanz und gönnt ihnen Momente des Glücks.

Vor allem die jüngste Generation im vierten Band darf eine Ahnung davon bekommen, wie es wäre, aufzusteigen und die Muster der Familie zu durchbrechen: "Fie sah voller Überraschung ihren Bruder an, der mit Lina auf sie zugetanzt kam. Dabei konnte er doch gar nicht tanzen! Aber er konnte es eben doch! Wie was das passiert? Und er sah ja so gut aus. Sein Gesicht war ja geradezu schön! (…) Der restliche Abend verging für Severin wie ein unbegreiflicher, wunderschöner Traum."

Rebellischer Klassiker

Amalie Skram wusste, worüber sie schrieb - sie selbst stammte aus einer armen Bergenser Familie. Wie das Mädchen Fie im letzten Band - die Urenkelin der Säuferline – wurde sie jung gegen ihren Willen verheiratet. Doch sie ließ sich im Laufe des Lebens zwei Mal scheiden, ernährte ihre Kinder allein vom Schreiben und wurde wegen ihrer rebellischen Texte in Nervenkliniken eingewiesen. In Norwegen ist sie ein Klassiker, Sätze aus den "Leuten vom Hellemyr" können die meisten zitieren, so wie den letzten, erschütternden Satz des ersten Bandes, nach dem Tod des geliebten Kindes: "Von diesem Tag an tranken beide, der Mann und die Frau vom Hellemyr."

Übersetzerische Meisterleistung

Wirklich beeindruckend ist die Arbeit der drei Übersetzerinnen dieser ganz neuen deutschen Ausgabe: Heutzutage ein norwegisches Werk aus dem 19. Jahrhundert zu übersetzen, mit Dialogen in einem Dialekt, den es in der Form gar nicht mehr gibt – eine Meisterleistung.

Christel Hildebrandt, Gabriele Haefs und Nora Pröfrock haben gemeinsam eine Mischung aus Platt und Berlinerisch erschaffen, die sich nach nur wenigen Seiten ganz natürlich anhört. Die Leute sagen "ek" statt "ich", "Onglöck" statt Unglück und "nötich" statt nötig. Wer allerdings diesen Dialekt spricht, entlarvt sich sofort als Mitglied der Unterschicht. Wer aufsteigen will, muss ihn sich abgewöhnen, für viele ein Ding der Unmöglichkeit.

Ergänzt wird jeder der vier sehr schön und schlicht gestalteten Bände von erklärenden Nachworten der Übersetzerinnen und des Bergenser Krimiautors Gunnar Staalesen, der mit seinen Varg Veum-Romanen das heutige Bergen literarisch festhält. In Glossaren werden die vielen norwegischen sprachlichen und kulturellen Eigenheiten erklärt, so dass die Leser gleich noch ein bisschen Norwegisch lernen können. Der Guggolz Verlag schließt mit der Übersetzung von Amalie Skrams Hauptwerk jetzt eine große Lücke, die diese zu Unrecht übersehene Autorin in ein ganz neues und modernes Licht setzt.

Irène Bluche, rbbKultur