Maria Stepanova: Mädchen ohne Kleider © Suhrkamp
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Gedichte - Maria Stepanova: "Mädchen ohne Kleider"

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Maria Stepanova erhält für ihren Lyrikband "Mädchen ohne Kleider" den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2023. Die Begründung der Jury: Die russisch-jüdische Autorin, die 1972 in Moskau geboren wurde und derzeit im deutschen Exil lebt, verhilft dem nicht-imperialen Russland zu einer literarischen Stimme, die es verdient, in ganz Europa gehört zu werden.

Jeder Körper, jedes Ding kann für sie ein Zeugnis der Geschichte sein, die allzu oft Gewaltgeschichte ist. In ihrer Literatur finden die missbrauchten Körper, Dinge, Wörter ein Zuhause, ohne ein Versprechen auf Heilung. Mit überraschenden Reimen, liedhaften Gedichtzyklen schafft Stepanova einen Hallraum für die Vergangenheit, die nicht vergeht. Ihre Sprache konterkariert, parodiert, unterläuft die russische Propaganda. Zugleich steht sie im intensiven Dialog mit der russischen und der westlichen Weltliteratur.

Arbeit am Gedächtnis

Bekannt geworden ist die 1972 in Moskau geborene Stepanova hierzulande zuerst als Romanautorin. 2018 erschien ihr Roman "Nach dem Gedächtnis" – Russisch: "Pamjati Pamjati", was etwa so viel bedeutet wie "Zur Erinnerung an die Erinnerung". Nicht zufällig hat der Suhrkamp Verlag das Buch als "Metaroman" beworben, denn Stepanova sucht darin nach den Spuren ihrer weit verzweigten jüdisch-russischen Familie und reflektiert zugleich die Bedingungen der Möglichkeit des Erinnerns heute. Im Interview 2018 sprach sie über die bedrohliche Dimension staatlicher Gedächtnispolitik:

"Das Gedächtnis ist ein sehr lebendiges, gefährliches Territorium. Gedächtniskriege bilden einen Bürgerkrieg, der nie endet. Mir scheint, dass genau das jetzt geschieht, denn das Gespräch über die Vergangenheit ist ein Mittel, über die Gegenwart zu sprechen. Wenn in Russland wieder begonnen wird, Stalin zu erörtern, Iwan den Schrecklichen oder Nikolaj den Zweiten, so wird damit zweifellos eine politische Diskussion durch eine historische Diskussion ersetzt."

Stepanovas Literatur ist dezidiert anti-heroisch. In ihrem Roman lässt sie die Toten sprechen, vor allem die Frauen ihrer Familie, in Zitaten aus Tagebüchern und Briefen; Menschen, die nie öffentliche Aufmerksamkeit suchten und die Stepanova vor kitschiger Verklärung bewahrt. Stattdessen schreibt sie über "sentimentale Romane 'aus dem Leben von einst'": "Wir schlüpfen in die Kleider" unserer Vorfahren, "als wären sie für uns gemacht, und drängen sie so Schritt für Schritt aus der Welt hinaus."

Stepanova macht sich die Kleider der Anderen nie zu eigen, aber sie betrachtet sie sehr genau.

"Stepanovas Lyrik ist wie ihre Prosa und Essayistik Arbeit am Gedächtnis", so die treffende Formulierung in der Jurybegründung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2023.

Körper und Holz

Sowohl der Roman "Nach dem Gedächtnis" als auch die beiden Lyrikbände von Maria Stepanova bei Suhrkamp wurden von Olga Radetzkaja bravourös übersetzt (für die Übertragung des Romans erhielten Autorin und Übersetzerin den Berliner Brücke-Literatur- und Übersetzerpreis 2020). Zugleich kann man dem Verlag nur dankbar sein für die wunderschön gesetzten, deutsch-russischen Ausgaben der Lyrik. Beide Bände, "Der Körper kehrt wieder" (2020) und "Mädchen ohne Kleider", enthalten je drei ausgewählte Gedichtzyklen Stepanovas, die wie ein lyrisches Triptychon wirken.

"Der Körper kehrt wieder" ist eine Auseinandersetzung mit all den Toten in der Erde, auch mit dem Mythos des Kriegshelden, des gefallenen Soldaten:

der menschliche körper
zergeht nicht wie seife
im öligen wasser
er ist nie "er war"
immer jetzt immer da

Das Wort "immer" ist kein Trost, eher trockene Diagnose, und es ist auch zentral im aktuellen Gedichtband "Mädchen ohne Kleider":

Immer ist da etwas, das sagt: zieh dich aus
Und zeig her, nimm das ab, leg es weg, leg dich hin
Und mach breit, lass sehen,
Mach auf, fass ihn an, siehst du das?

Hier geht es um sexualisierte Gewalt, um den pornografischen Blick auf Mädchen, Frauen; das ist schmerzhaft zu lesen und zugleich hochpoetisch: Stepanova zitiert Metaphern von Äpfeln, Pflaumen, Zweigen, Blättern für den weiblichen Körper; so gezielt, dass sogar die Wunden im Fleisch des Holzes spürbar werden.

Kleider und Erde

Im zweiten Gedichtzyklus betrachtet und sortiert Stepanova die Hüllen, die "Kleider ohne uns": "Verlassen, menschenleer, reglos" – "Auf Wühltischen im Weihnachtsschlussverkauf". Schier grenzenlos sind die Möglichkeiten der Kleiderordnung, formuliert als Aufforderung zur genauen Unterscheidung:

Teile sie ein, warum nicht, nach Gattung und Art,
Nach Heimatländern und Herkunft

(Italienischer Stoff, made in China).

Stepanova entwickelt daraus eine Poetologie der Genauigkeit, der sprachlichen Erkundung von Werden und Vergehen:

Präsentiere die Seidenraupen, die wolligen Schafe
Weise hin auf die Unvollkommenheit der Materie.
Zeige die Kleider entkleidet.

Von den Wühltischen geht es in die Zerfaserung in der Erde:

Wo was nichts war mit einem Mal alle Welt ist.

Wind und Wörter

Jedes Ding ist ein Zeuge der Zeitläufte in dieser nüchternen, existentiellen, mitunter bitter-lakonischen Dichtung, die immer auch das eigene Sprechen reflektiert. Der dritte Teil: „Bist du Luft“ erinnert an eine frühere Zeile von Stepanova: „Ich schreibe wie der Wind“. Was können Wörter in einer Welt der Gewalt und des Verbrauchs von Körpern und Kleidern ausrichten?

Grab eine Grube leg das Gesicht hinein
Sag in die Erde "Liebste", dann schnell
Zudecken, warmhalten, warten, bis gegen die Hand
Ein Pilz stößt ein Steinpilz ein falscher

Der falsche Steinpilz lügt, so steht es im russischen Original. Jedes Wort – besonders "Liebe" – kann ein Lügengeflecht säen. Und doch lauscht Stepanova den Wörtern sehr genau. Zeigt ihr propagandistisches, gewalttägiges Potential, bleibt dabei im intensiven Dialog mit der russischen und der westlichen Weltliteratur, vermittelt ein antiimperiales, unheroisches Russisch, eine Sprache ohne Machtanspruch:

Schleicht am Geländer entlang ein Zweig, als wär’s eine graue
Katze, durch Büsche am Weg rauscht ein Hund wie
Wind, nur das Hören selber bleibt lautlos,
Gleicht nichts, misst sich mit niemand

Natascha Freundel, rbbKultur

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