Ljudmila Ulitzkaja: Die Erinnerung nicht vergessen © Hanser Verlag
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Persönliche Aufzeichnungen und politische Essays - Ljudmila Ulitzkaja: "Die Erinnerung nicht vergessen"

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Seit 2012 gehört die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja zu den Wenigen, die immer wieder gegen Putin protestierten und die den Krieg gegen die Ukraine schon 2014 beim Namen nannten. Im Februar 2022 unterschrieb sie eine Petition, in der der Einmarsch im Nachbarland als "Schande" bezeichnet wurde. Daraufhin mußte sie das Land verlassen. Ihr neues Buch, gerade erschienen, heißt: "Die Erinnerung nicht vergessen" - es sind persönliche Aufzeichnungen und politische Essays.

Das Vorwort ist aus dem Exil heraus geschrieben. Es geht nicht anders. Seit März 2022 lebt Ljudmila Ulitzkaja zusammen mit ihrem Mann, dem Bildhauer Andrei Krassulin, in Berlin. Hier besitzen sie eine Wohnung, sind also, das ist ihr klar, Privilegierte unter denen, die ihr Land verlassen mussten. Seit 2012 gehört Ljudmila Ulitzkaja zu den Wenigen, die immer wieder gegen Putin protestierten und die den Krieg gegen die Ukraine schon 2014 beim Namen nannten. Im Februar 2022 unterschrieb sie eine Petition, in der der Einmarsch im Nachbarland als "Schande" bezeichnet wurde. Freunde rieten ihr daraufhin, sich im Ausland in Sicherheit zu bringen. Die Emigration ist für russische Intellektuelle nichts Neues. Ulitzkaja erinnert daran, wie schon vor hundert Jahren, noch vor der Gründung der UdSSR, mehrere Schiffe, mit Wissenschaftler und Künstler die Häfen Sowjetrusslands verließen, die sogenannten "Philosophendampfer".

Die Sehnsucht nach Moskau

Berlin ist für Ulitzkaja "eine der ruhigsten, angenehmsten und wohnlichsten Städte Europas". Trotzdem richtet sich ihre Sehnsucht nach Moskau, ihrer Heimatstadt, wo sie den größten Teil ihres Lebens verbrachte und wo sie in einer jüdischen Familie aufgewachsen ist. Sie hofft, "das Ende dieses Kriegsirrsinns" noch zu erleben und eines Tages zurückkehren zu können. Die heute fast Achtzigjährige weiß, dass sie im letzten Abschnitt ihres Lebens angekommen ist – und vielleicht auch im letzten des russischen Imperiums. Der Kriegsbeginn markiert für sie eine "Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft", hinter der es "große Veränderungen" geben wird. Das ist nicht schwer zu prognostizieren. Welche Veränderungen das sind, liegt aber auch für Ulitzkaja im Dunkeln.

Das Exil als Zwischenraum zwischen den Welten

Vielleicht ist das Exil der schmale Zwischenraum zwischen den Zeiten. Weil die Zukunft ungewiss ist, richtet sich der Blick eher in die Vergangenheit. Die meisten der nun unter dem Titel "Die Erinnerung nicht vergessen" versammelten Essays spüren persönlichen Erlebnissen nach, als müsste da rasch noch etwas in Sicherheit gebracht werden. Sie beschreiben die "Geographie der Kindheit" in einer unübersichtlichen Familie, befassen sich mit frühen sexuellen Erfahrungen, aber auch den späteren Eheverhältnissen, Ex-Männern, Kindern, Freundschaften. Sie betrachten den eigenen Körper als etwas, das über ererbte Ähnlichkeiten nicht nur Auskunft über die Abstammung gibt – da meldet sich die studierte Biologin und Genetikerin zu Wort –, sondern anhand seiner Narben auch eine eigene Geschichte zu erzählen vermag.

Schreiben gegen das Vergessen

Ulitzkaja beklagt, schon immer ein schlechtes Gedächtnis gehabt zu haben, das aber im Alter noch viel schlechter wird. Das ganz Frühe ist darin präsenter als das, was gestern und heute geschah. Das Vergessen ist ihr stärkster Antrieb fürs Schreiben, das auch deshalb mehr um die eigene Herkunft als um politische Themen kreist. Gleichwohl betrachtet sie die Gedächtniskultur "selbstverständlich als etwas Jüdisches". Die meisten Texte sind bereits vor Kriegsbeginn, teils in Moskau, teils in Italien entstanden. Sie halten eine Welt fest, die schon am Zerfallen war. "Moskau zu lieben fällt mir immer schwerer", heißt es da. "Die Heimat meiner Kindheit ist fast völlig zerstört"

Erinnerungen wie Flickenteppiche

Die Erinnerungen stellen sich nicht in chronologischer Ordnung ein, sondern durcheinander und bildhaft. Man begibt sich in Ulitzkajas Texten in ein wildes Durcheinander der Zeiten. Nicht die großen Zusammenhänge und Entwicklungslinien werden dabei deutlich, sondern kleine Details, Momentaufnahmen, die normalerweise schnell vergessen werden. Einer der Texte handelt vom Nähen und Flicken und der kulturellen Bedeutung, die der Mode als einer Mangelerscheinung in der Sowjetunion zukam. Kleidungsstücke wurden immer wieder geflickt und weitergereicht, aus Resten alter Mäntel entstanden neue. Das galt, so Ulitzkaja, nicht nur für Textilien, sondern auch für das Leben selbst und für die marxistisch-leninistische Ideologie. Auch sie war ein Flickenteppich aus den Resten vergangener Epochen.

Freiheit entsteht, wo es freie Menschen gibt

Am stärksten in diesem disparaten Band sind die Texte, die sich auf Russland beziehen, manchmal auch nur einzelne Bemerkungen, etwa wenn Ulitzkaja Russland als Gesellschaft der Angst beschreibt und dazu anmerkt: "Angst zerstört den Menschen." Oder wenn sie schreibt: "In Russland zählt man die Opfer entweder gar nicht oder in Millionen." Oder wenn sie – mit Platon – feststellt, dass Freiheit nur da entstehen kann, wo es freie Menschen gibt, doch genau die gab es 1991 nicht, als Russland sich auf den Weg in die Freiheit machte. Und es gibt sie, so wäre zu ergänzen, auch heute zu selten, in einer Gesellschaft, die auf Angst und Gehorsam aufgebaut ist. Solange die wenigen, die sich wie Ulitzkaja von der Propaganda nicht beeindrucken lassen, im Exil leben müssen, ist ein grundsätzlicher Wandel nicht zu erwarten.

Jörg Magenau, rbbKultur

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