Édouard Louis u. Ken Loach: Gespräch über Kunst und Politik © S. Fischer
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Sachbuch - Édouard Louis und Ken Loach: "Gespräch über Kunst und Politik"

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Zwischen ihnen liegen 55 Jahre, und doch verstehen sie sich gut. Der englische Filmregisseur Ken Loach und der junge Autor Édouard Louis aus Nordfrankreich. Was sie verbindet ist ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse und ihr kritischer Blick auf die kapitalistische Gesellschaft. Jetzt ist ein schmnales Buch der beiden erschienen, ein "Gespräch über Kunst und Politik", so der Titel.

Édouard Louis und Ken Loach verstehen sich. Zwar trennen den jungen französischen Schriftsteller und den großen alten Filmregisseur aus England 55 Lebensjahre. Stärker fällt aber die gemeinsame Herkunft aus dem Arbeitermilieu und aus sozialer Armut ins Gewicht. Loach wurde mit Filmen über die englische Arbeiterklasse, über die Perspektivlosigkeit der Jugend oder über den irischen Freiheitskampf berühmt. Seine Protagonisten gehören stets zu den Unterdrückten und den Opfern von Herrschaft und Gewalt.

Édouard Louis schreibt immer über sich selbst und seine Familie, über seine Homosexualität und das Außenseitertum, das er deshalb von klein auf durchlebte. Gewalt richtet sich bei ihm nicht nur von oben nach unten. Sie ist auch etwas, das sich die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft gegenseitig zufügen.

Vereint in der Ablehnung des ausbeuterischen Kapitalismus und in der Kritik am Staat

Um diese kleine, aber bedeutende Differenz kreist das Gespräch der beiden, das nun in Buchform vorliegt, immer wieder. Loach neigt zu eher traditionalistischen, klassenkämpferischen Vorstellungen. Er plädiert für die Stärkung von Solidargemeinschaften wie etwa der Gewerkschaft, während Louis darauf verweist, dass Gemeinschaften auch toxisch sein können. Deshalb müsse jedes Individuum das Recht haben, sein Herkunftsmilieu zu verlassen. Darüber schrieb er in seinem letzten Buch "Anleitung ein anderer zu werden" am eigenen Beispiel.

Doch beide treffen sich sofort wieder in ihrer Ablehnung des ausbeuterischen Kapitalismus und in der Kritik am Staat, dem es ums Funktionieren der Wirtschaft und nicht um die Entfaltungsmöglichkeiten der Einzelnen gehe. Loach spricht von der systematischen "Grausamkeit", die darin liege, Arbeitslose möglichst schlecht zu stellen, damit andere aus Sorge ums Überleben eine schlecht bezahlte und unwürdige Arbeit anzunehmen bereit sind. Sein Schlüsselbegriff ist "Sicherheit". Nur dann, wenn Menschen abgesichert sind, können sie auch tolerant und friedlich sein.

Versagen der linken Parteien und der Sozialdemokratie

Beide sind sich einig darin, dass die linken Parteien, die Sozialdemokratie vor allem, versagt haben, weil sie die Armen und die Arbeiterschaft sich selbst überlassen haben. Dieses Versäumnis können die rechtsradikalen Populisten europaweit ausnützen, indem sie zwar die Sorgen und das Sicherheitsbedürfnis der Depravierten aufgreifen, doch nicht auf Solidarität, sondern im Gegenteil auf Entsolidarisierung setzen. Dann sind nicht die Herrschenden der Gegner, sondern die anderen Armen.

Politik ist für Louis "eine Frage von Leben und Tod, von Mord"

Louis scheut nicht vor starken Worten zurück, wenn er Politik als "eine Frage von Leben und Tod, von Mord" bezeichnet. Sie nehme in Kauf, dass Arme früher sterben, weil ihnen nicht geholfen wird. Sein eigener Vater ist dafür sein bestes Beispiel. Dem Vater sei – und damit gehört er wohl zur Generation von Ken Loach und dessen Denkweise – Arbeit noch ein Wert an sich gewesen, während Édouard Louis für sich und seine Generation in Anspruch nimmt, prekäre Arbeitsverhältnisse abzulehnen und sich für Selbstbestimmung, Flexibilität und Unsicherheit einzusetzen. Ein Mehr an Freiheit ist im Zweifelsfall wichtiger als nur das Geld.

Interessantere Bemerkungen zur Kunst

Interessanter als diese etwas groben argumentativen Klötze sind die Bemerkungen zur Kunst, etwa wenn Louis feststellt, die Aufgabe der Literatur habe früher darin bestanden, "sichtbar zu machen", also unterschiedlichste Lebensverhältnisse ans Licht zu holen. Das ist ein Unterfangen, das auch Ken Loach in all seinen Filmen verfolgt hat. Heute aber, so Louis, haben die sozialen Medien diese Rolle übernommen. Dank ihnen ist jeder und jede und alles sichtbar. Deshalb gehe es nicht mehr ums "Aufzeigen, sondern um Konfrontation".

Wenn Loach Kunst gerne auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verpflichten möchte, argumentiert Louis gegen künstlerische Selbstbefriedigung, gegen den Kunstbetrieb, gegen Kunst als Ware und als schönen Trost. Kunst, sagt er, entstehe aus "Wut auf Kunst". Sie muss "die Welt unerträglich machen, indem sie zeigt, wie unerträglich die reale Welt ist."

Loach stimmt zu, verweist aber doch auch auf Momente der Zärtlichkeit. Auch wer das Schöne zeigt, macht damit deutlich, was in der Welt nicht stimmt.

Das Buch als Ableger eines TV-Gesprächs vor Publikum

Ganz neu ist all das nicht, und auch das Gespräch der beiden ist nicht mehr ganz neu. Da es keine editorische Notiz gibt, muss man dem Dank der Autoren an den Fernsehsender Al Jazeera und dem Team von "Studio B, Unscripted" nachgehen. In dieser Reihe, in der immer zwei Gesprächspartner ohne einen Moderator ihr Thema entwickeln, traten sie bereits im Dezember 2019 auf. So erklärt sich auch, warum weder von der Corona-Pandemie, noch vom Ukraine-Krieg die Rede ist. Die völlige Abwesenheit der Klimathematik ist dennoch erstaunlich. Im Netz ist das auf Englisch geführte Al Jazeera-Gespräch leicht zu finden.

Auf dem Umweg über die französische Buchausgabe von 2021 ist es nun im Deutschen gelandet. Auch die dazwischengeschalteten Fragen, die im Buch so wirken, als hätten die beiden eine Pressekonferenz gegeben, erklären sich dann als Nachfragen eines interessierten und aufgeweckten Publikums.

Tatsächlich gehört die Flüchtigkeit des Mediums zum Charakter des Gesprächs. Wenn man die beiden reden sieht, ist es viel leichter, spielerischer und lebendiger als die gedruckte Version. Da gerinnen die Thesen zu festen Statements.

Jörg Magenau, rbbKultur

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