Karl Ove Knausgård: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit © Lucherhand
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Roman - Karl Ove Knausgård: "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit"

Bewertung:

Karl Ove Knausgård gilt als einer der wichtigsten Autoren der Gegenwart. Mit der sechsbändigen Romanserie "Min Kamp" ("Mein Kampf") gelang ihm der literarische Durchbruch. Das autofiktionale Projekt wurde in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. Nach einer vierbändigen Prosa-Studie über die Jahreszeiten begann der Autor mit einem neuen, auf fünf Bände angelegten Romanzyklus. Teil eins hieß "Der Morgenstern". Jetzt ist der zweite Teil des Romanprojekts erschienen: Das über 1000 Seiten dicke Roman-Massiv "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit".

Man muss nicht zwangsläufig an den ersten Teil gelesen haben, um auch den zweiten Teil zu verstehen. Doch hilfreich ist es, will man eine Ahnung von der Komplexität der ineinander greifenden Handlungen und Zeiteben bekommen und darüber spekulieren, wohin Knausgård uns noch führen will.

Zeitliche und geografische Sprünge

Der neue Roman heftet sich an das Schicksal von anderen Personen zu anderen Zeiten, er beginnt im Jahr des Super-GAUS in Tschernobyl und landet in der aktuellen Gegenwart. Er springt mehrmals - zeitlich und geografisch - vor und zurück, endet dann tatsächlich mit dem urplötzlich am Himmel erscheinenden "Morgenstern", den manche Leserinnen und Leser bereits aus dem ersten Teil kennen und nach dessen Auftauchen die Apokalypse und der Anfang einer neuen Zeitrechnung folgte.

Der Anfang vom Ende?

Der neue Roman erzählt die Vorgeschichte zu den letzten Tagen der Menschheit - aus mehreren Blickwinkeln und mit einem disparaten Personal. Zunächst begegnen wir im Frühjahr 1986 dem jungen Norweger Syvert Loyning: Nach dem Atom-Desaster zieht eine atomare Wolke über Europa: Ist das der Anfang vom Ende?, fragt sich Syvert.

Aber nur ganz kurz. Viel zu sehr ist er mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Gerade ist er vom Militärdienst entlassen worden. Zu Hause warten auf den arbeitslosen Jugendlichen eine krebskranke Mutter und ein kleiner kluger Bruder, der autistische Züge trägt. Sein Vater ist vor Jahren mit dem Auto von der Straße abgekommen und in den Tod gerast: War es ein Unfall oder Selbstmord? Keiner weiß es. Komisch nur, dass der tote Vater in Syverts Träumen auftaucht und ihm eine Botschaft übermitteln will.

Nach 550 ereignislosen Seiten unterbricht Knausgård den Erzählfluss

Tatsächlich findet Syvert in den Sachen seines Vaters alte Briefe in kyrillischer Schrift: Aus ihnen geht hervor, dass sein Vater in Russland eine Geliebte hatte, die von ihm schwanger war; dass er sich scheiden lassen, nach Russland ziehen und dort ein neues Leben beginnen wollte.

Syvert spürt, dass sein bisheriges Leben eine Lüge war. Aber außer, dass er endlich die schöne Lisa ins Bett bekommen will, hat er keinen Plan für die Zukunft. Weil er dringend Geld braucht für seine nächtlichen Zechtouren, heuert er bei einem Beerdigungsinstitut an und lernt den Tod von einer anderen Seite kennen.

An diesem Punkt sind bereits 550 Seiten rum: Unendlich langsam und ohne ein Ereignis aus der befremdlichen Zeit der möglichen atomaren Katastrophe hervorzuheben, berichtet Syvert in der Sprache eines 19-Jährigen, was er denkt und fühlt. Aber statt die Geschichte - wie umständlich auch immer - zu Ende zu bringen, unterbricht Knausgård plötzlich abrupt den Erzählfluss und führt die Leserinnen und Leser bei seiner literarischen Schnitzeljagd auf eine völlig neue Fährte: Ach du Schreck!

Plötzlich in Russland

Plötzlich sind wir in Russland, lernen die Wissenschaftlerin und Ärztin Aletvina kennen, die mit ihrem Sohn von Moskau nach Samara reist, um den 80. Geburtstag ihres Vaters zu feiern, ein begnadeter Musiker und notorische Bücherwurm, der sich später als ihr Stiefvater erweisen wird.

Aletvina breitet vor dem Leser ihr Leben aus, die schwierige Beziehung zu ihrer verstorbenen Mutter, die der Tochter auf dem Sterbebett ans Herz legte, sie möge endlich "Ja" sagen zum Leben, nicht immer alles so ernst nehmen und infrage stellen. Wir bekommen Einblick in Aletvinas Forschungen zur Gen-Manipulation und DNA-Entschlüsselung, zur Bio-Linguistik und zur Sprache der Bäume: ziemlich krudes Wissenschaftsgebrabbel.

Dann reicht sie den Erzählstab weiter an ihre beste Freundin, Vasilisa, eine Dichterin, die sich mit den christlichen Mythen und religiösen Lehren von Tolstoi und Dostojewski und dem Glauben an das ewige Leben beschäftigt. Vasilia zitiert aus den verschwurbelten Schriften des futuristischen Esoterikers Nikolai Fedorow über die Abschaffung des Todes und die Schaffung des Ewigen Lebens. Ihre Lesefrüchte sind die Basis für ihr großes Werk, an dem sie seit langem herumfummelt und das den Titel tragen soll: "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit".

Wie bitte, denkt man erschrocken, ist das nicht der Titel des Romans von Knausgård, den wir gerade in den Händen halten?

Entwirrung des Erzählknäuels nach 1.000 Seiten

Das Erzählknäuel entwirrt Knausgård nach knapp 1.000 Seiten: Syvert taucht aus der Zeitschleife auf, er ist jetzt 50, längst mit Lisa verheiratet, Vater erwachsener Kinder, erfolgreicher Bestattungsunternehmer. Seit Jahren lasteten die Briefe seines Vaters wie ein Mühlstein auf seiner Seele, jetzt hat er Mut gefasst und trifft sich in Moskau mit Aletvina: Sie ist, wir haben es längst geahnt, seine Halbschwester, gezeugt vom selben Vater, für den der Tod der Ausweg aus dem existenziellen Liebesdilemma war.

Aber vielleicht ist er gar nicht tot. Oder er wird gerade zum Ewigen Leben wieder erweckt. Denn während Syvert und Aletvina sich beschnuppern, erscheint am Himmel "Der Morgenstern", Vorbote der finalen Katastrophe und der letzten Tagen der Menschheit.

Ein großer Schmarren

Nach seiner ausufernden Seelenbeichte der "Min Kamp" ("Mein Kampf")“-Serie nun ein zwischen Alltagsgebrabbel und Spökenkram schwankender Literatur-Hybrid über die Abschaffung der Welt und die Errichtung eines neuen Gottesreiches: Ein großer Schmarren, den man weder theologisch noch literarisch verdauen kann. Nach der Lektüre fühlt man sich ausgelaugt, leer und lustlos.

Ein Merksatz von Literatur- und Musikpapst Joachim Kaiser lautet: "Wenn ein Satz weder Anmut hat noch eine neue Information enthält, dann darf man ihn nicht schreiben."

Hätte Knausgård das berücksichtigt, wäre sein dickes Buch sehr schmal ausgefallen.

Frank Dietschreit, rbbKultur

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