Foto-Kolumnen - Katja Petrowskaja: "Das Foto schaute mich an"
Seit acht Jahren schreibt Katja Petrowskaja alle drei Wochen einen kurzen Essay zu einem Foto ihrer Wahl in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, lebt seit 1999 in Berlin und ist 2014 mit ihrem Buch "Vielleicht Esther" auch weit über Deutschland hinaus bekannt geworden. "Vielleicht Esther" ist die literarische Erkundung ihrer Kiewer Familiengeschichte. Petrowskajas neues Buch heißt "Das Foto schaute mich an" und versammelt ihre Zeitungstexte von 2015 bis 2021. Sie lesen sich heute wie Bild- und Selbstbefragungen vor einem unangekündigten, aber nahenden großen Krieg.
"Das Foto schaute mich an" – der Titel erinnert an den Satz von Karl Kraus: "Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück". Worte können merkwürdig fern entrücken, diese Fotos aber rücken ganz nah an die Betrachterin heran. Katja Petrowskaja sieht in ihnen ein Geheimnis, das sie nicht enthüllen kann, auf das sie aber mit einer ganz persönlichen Reflexion reagieren muss.
Bergmann vom Donbass
Das erste der allesamt hervorragend, wenn auch etwas klein gesetzten Fotos stammt von der ukrainischen Künstlerin und Autorin Yevgenia Belorusets und zeigt einen Bergmann im Donbass vor einem Plattenbau und einer Wiese mit Birke. Der Ort heißt "Stschastje" – auf Russisch: "Glück". Das Bild gehört zu Belorusets‘ Fotoserie "Die Siege der Besiegten" von 2015.
Petrowskaja schreibt, sie sei nie im Donbas gewesen; die Augen des Bergmanns hätten sie über Monate hinweg verfolgt. Es sind eigentümlich weiße, starre Augen in einem kohleschwarzen Gesicht, aus dem eine Zigarette hervorragt. Die Augen leuchten durch den Zigarettenrauch hindurch. Das Gesicht bleibt ein Enigma und Petrowskaja schreibt, nicht der Bergmann sei blind: "ich bin es, mit meinem Unwissen, mit meiner Ignoranz, gegenüber dieser Region, diesen Menschen".
Miniaturen gegen den Krieg
Mit der Krim-Annexion ab Februar 2014 begann Russlands Krieg gegen die Ukraine, wissen wir heute. Die Foto-Essays im Buch sind unmittelbare Reaktionen auf die Krim-Annexion. Petrowskaja nennt sie "Minitaturen, kleine Fragmente, auf der Suche nach Stimme." Inzwischen können wir nicht anders, als diese Foto- und Selbstbefragungen im Licht (oder Dunkel) des umfassenden Kriegs ab Februar 2022 zu lesen.
"Die Realität hat meine schlimmsten Alpträume übertroffen", erklärte Petrowskaja damals. Im Februar 2023 haben ihre "Miniaturen" ein noch größeres Gewicht: Die Fotos schauen auch uns heute an, wir sehen darin unsere Blindheit gegenüber den Gespenstern der totalitären Vergangenheit, die sich schon lange auf diesen Krieg gegen ein Land, das einfach in Freiheit und Demokratie leben möchte, vorbereitet hatten und nicht abrücken.
"Ein Junge eben."
Die Foto- und Textsammlung in der Edition Suhrkamp ist ein vielgesichtiges Geschenk, das selbst – wie die Augen des Bergmanns – zu strahlen scheint. Es mag am großzügig gesetzten Text liegen, an der glatten Textur des Papiers. Es liegt natürlich an den so unterschiedlichen Fotos – darunter die Ruinen in Kiews Zentrum 1943, zerschossene Fassaden in Prag 1968, ein Gewächs aus Tschernobyl, ein Eisbär vor russischen Soldaten im Zoo von Kaliningrad 1999 – die ein Reise durch Raum und Zeit ermöglichen. Es liegt aber vor allem an Petrowskajas Gabe, so persönlich wie zärtlich und immer mal leicht schnippisch auf die Fotos zu antworten.
"Am Schwarzen Meer" heißt ein Text von 2018 zu einem Bild zweier Kinder, die über ein Ereignis außerhalb des Bilds staunen. Das Mädchen wirkt für Petrowskaja "beinah mystisch: leuchtendes Gesicht, offener Mund, weit aufgerissene Augen." Der Junge schaut zurückhaltender: "Ein Junge eben."
Frauen auf Fotos
Viele Fotos, die Petrowskaja für ihre Kolumnen ausgewählt hat, zeigen Frauen und Mädchen. Hin und wieder ist es die Autorin selbst, die ein Foto aus ihrer Kiewer Kindheit entdeckt hat. Manchmal sehen wir Frauen, die Petrowskaja überraschend ähneln. Zum Text "Im Laufe der Zeit" gehört das Foto einer kurzgeschorenen jungen Frau, nachdem sie sich die langen Haare abschneiden ließ. Aus der Fotoserie, in der die Frau über ihr neues Gesicht staunt, wurde ein Daumenkino und Petrowskaja denkt über das Geschenk des Daumenkinos nach: "zu sehen, wie ein Mensch den Posen und Konventionen entschlüpft".
Auch die Autorin möchte den Konventionen der Weiblichkeit, der Masse entschlüpfen. "Ich ist ein anderer" gilt auch hier; eher noch: "Ich ist eine andere." So bleiben einander ferne Menschen durch Zeit und Raum verbunden; in Augenblicken ihres so leicht zerstörbaren Lebens.
Natascha Freundel, rbbKultur