Merethe Lindstrøm: Nord © Matthes & Seitz Berlin
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Roman - Merethe Lindstrøm: "Nord"

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In dieser Woche jährt sich der großflächige Angriff Russlands auf die Ukraine. Ein Krieg, der mit seinem ganzen Grauen unsere Nachrichten beherrscht und doch in Worten oft nicht zu fassen ist. Die norwegische Sängerin und Schriftstellerin Merethe Lindstrøm hat in ihrem Roman "Nord" versucht, Kriegen eine Sprache zu geben. Der Roman ist jetzt in deutscher Übersetzung erschienen.

Nord, das ist das Paradies, der beste Ort der Welt, zu Hause. Dort muss er hin, dann ist alles wieder gut. Daran klammert sich der namenlose Jugendliche, der mit einem Kompass ausgestattet, Richtung Nord durch ein verwüstetes, fast menschenleeres Land wankt, halb verhungert, vom jahrelangen Krieg gezeichnet, nicht mehr Herr seiner Sinne: "Jedes Mal, wenn ich mir sagte, ich bin nur einer, ich bin allein hier, jedes Mal wieder war da noch jemand in mir, der herauswollte: Die Stimme kam von irgendwo in meinem Inneren. Ich sah ihn auch aus den Augenwinkeln, ein flüchtiger Schemen, mir war klar, dass er auch ich war."

Ein Krieg für alle Kriege

Er war in einem Lager, er hat endlose Gefangenenmärsche überlebt, der Krieg scheint fast vorbei zu sein, denn so genannte Befreier rücken heran. Doch auch die Befreier verbreiten Angst und Schrecken und es fliegen weiterhin Bomber über das Land: "Wir hören es beide. Den Klang, den abscheulichen Gesang, das Brummende Summen der Strophe, und dann den Refrain, der einem, einmal gehört, nie wieder aus dem Kopf geht. Aus der Ferne sind die Flugzeuge schwarze Fliegen, schlüpfen aber bald aus der Insektenhülle und tosen über den Himmel."

Welcher Krieg das ist, welches Land, welche Zeit – das wird nie gesagt. Es ist auch nicht wichtig – Es könnte jeder Krieg sein, den es jemals gab oder geben wird. Die norwegische Autorin Merethe Lindstrøm hat "Nord" bereits 2017 geschrieben, lange vor Beginn des jetzigen Kriegs zwischen Russland und der Ukraine.

Drei Kinder auf der Flucht

Lindstrøms jugendliche Hauptfigur ist zugleich jung und uralt, er kann sich kaum noch an sein Leben vor dem Krieg erinnern, er springt in seinen Gedanken und Erinnerungen zwischen seiner Kindheit und dem Leben in Lagern, einer kurzen Zeit der Rettung durch eine junge Frau, immer wieder zurück in die alptraumhafte Gegenwart. Mitten in seinem Delirium, an seinem 17. Geburtstag, erscheint ein anderer Mensch auf seinem Weg:

"Der Junge saß auf einem Baum. Ich entdeckte ihn, weil ich nach oben schaute und wieder nicht nach unten, so stolpere ich manchmal beim Gehen, die Bäume locken wispernd und winkend zum Licht dort, ich achte nicht mehr auf meine Schritte. Der Junge im Baum war nur ein Gesicht, alles andere an ihm ein schroffes Relief, ein paar Kleiderfetzen, Stiefel, mit Haut überzogene Knochen."

Sie sind jetzt zu zweit auf dem Weg nach Nord und kurz darauf zu dritt: In den Trümmern eines zerbombten Dorfes finden sie nur eine Überlebende: ein einjähriges Mädchen. Dieses unwahrscheinliche Trio kämpft sich durch Wälder, in denen tote Soldaten an Bäumen hängen, isst Erde und Wurzeln und erwacht morgens, bedeckt von Schnee.

Hoffnungsschimmer Nord

In all diesem Elend gibt es seltene Momente des Glücks: Bauern, die frisches Brot verschenken, wandernde Theaterleute, die Realitätsflucht versprechen, eine Ahnung von Freundschaft oder Liebe. Das Ziel "Nord" wird dabei immer mehr zu einer Utopie:

"Ich erinnere mich selbst kaum daran, aber vielleicht an einen Tag, an dem ich einfach nur im Park vor dem Haus, in dem ich gewohnt habe, gelegen und in die Bäume geschaut habe, ich war gern dort und die Bäume über mir wussten nichts vom Wald oder von Landstraßen, und alle, die ich kannte, waren irgendwo im Park, ich hörte sie reden und lachen, und rundherum war die Stadt, in der ich geboren war, und alles war still und ich hörte meinen Atem, gleichmäßig und ruhig."

Diese Hoffnung auf das ferne Nord ist manchmal auch das einzige, das das Lesen erträglich macht: Das Leid der drei einsamen Kinder in der apokalyptischen Landschaft ist kaum auszuhalten.

Unwiderstehlicher Sog der Sprache

Doch Merethe Lindstrøms Erzählung in der brillanten Übersetzung von Elke Ranzinger entwickelt einen unwiderstehlichen Sog. Ebenso wie die Geschichte selbst, scheinen die Sätze weder einen Anfang noch ein Ende zu haben, sie gehen ineinander über wie Realität und Traum der Figuren, ebenso wie hier alle Kriege der Menschheit miteinander zu verschmelzen scheinen und sich ständig wandelt, wer Freund und wer Feind ist, wer Jäger, wer Gejagte.

Mit "Nord" ist nicht nur ein ungewöhnliches und tieftrauriges Buch gegen den Krieg erschienen, sondern auch ein beeindruckendes Stück Literatur aus Norwegen.

Irène Bluche, rbbKultur