Roman - Ulrike Draesner: "Die Verwandelten"
Ulrike Draesner ist eine äußerst vielseitige und vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin, Lyrikerin, Essayistin, Erzählerin. Im Januar veröffentlichte sie einen Band mit gesammelten Gedichten aus 25 Jahren. Jetzt ist ein opulenter neuer Roman von ihr erschienen, 600 Seiten schwer, mit dem Titel "Die Verwandelten". Es ist der dritte Teil einer Trilogie, die sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts befasst, mit Nationalsozialismus, Krieg, Flucht und Vertreibung und den Folgen bis in die nächsten Generationen und in die Gegenwart hinein.
Im Januar erschien ein Band mit ihren gesammelten Gedichten aus 25 Jahren. Ulrike Draesner nannte ihn "hell & hörig". Dass dieser Titel eine Poetik darstellt, wird erst jetzt, am Ende ihres umfangreichen neuen Romans über die Schrecken des 20. Jahrhunderts deutlich. "Wenn jemand spricht, wird es hell", lautet dessen letzter Satz. Und kurz zuvor nennt Ulrike Draesner als Ziel ihres Schreibens: "Schweigen hören".
Ein Roman über den Nationalsozialismus und seine Folgen aus streng weiblicher Perspektive
"Die Verwandelten" heißt dieser Roman über den Nationalsozialismus und seine Folgen, über Flucht und Vertreibung, Gewalt und die Notwendigkeit des Neuanfangs, aber auch über Rassenwahn und Menschenzucht – und das alles aus streng weiblicher Perspektive.
Erzählt wird eine komplizierte, selbst den Beteiligten dunkle, deutsch-polnische Familiengeschichte über drei Generationen und mehr als ein Jahrhundert hinweg bis in unsere Gegenwart. Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen der mittleren, der Kriegsgeneration. Auf der einen Seite Alissa, die, wie sich herausstellt, in einem Heim des nationalsozialistischen "Lebensborn" zur Welt kam und von einem stramm nationalsozialistischen Paar adoptiert wurde. Jahrzehnte später begibt sie sich auf die Suche nach ihrer wahren Herkunft und entdeckt, dass sie die Tochter eines Dienstmädchens ist, das vom Dienstherren geschwängert wurde. Der mögliche Skandal wurde vertuscht, indem sich ein SS-Mann gegen Geld als Vater ausgab und damit den Weg zum "Lebensborn" ermöglichte. Dass die Wirklichkeit sich häufig nicht nach der Ideologie richtet, ist ein schöner Nebeneffekt dieser Geschichte.
Verwandlungen als Überlebensstrategien
Auf der anderen Seite ist Walla, die im polnische Wrozlaw einen Kiosk betreibt und vier Kinder von zwei verschiedenen Männern hat. Alle Beziehungen, die in diesem weit verzweigten Roman vorkommen, sind so uneindeutig wie die Abstammungsverhältnisse, doch immer sind die Frauen die starken, zentralen Figuren. Dass Walla bis 1945 Renate hieß und aus einer deutschen Familie stammt, die dann in den Westen vertrieben wurde, wissen zunächst noch nicht einmal ihre Kinder. 1945 wechselte sie ihre Identität, um in der Heimatstadt bleiben zu können, mehr noch jedoch, weil sie damit die schrecklichen Erlebnisse während der letzten Kriegswochen hinter sich lassen kann.
Die Verwandlungen, die dem Roman den Titel geben, sind nicht nur in diesem Fall Überlebensstrategien. Draesner hat ihrem Buch ein Zitat aus Ovids "Metamorphosen" vorangestellt, mit dem das Thema angedeutet wird. Um Vergewaltigung und deren körperliche und seelische Folgen geht es auch bei Ovid.
Ein anspruchsvoller Roman
"Die Verwandelten" ist ein anspruchsvoller Roman, der seinen Lesern einiges abverlangt. Jedes Kapitel ist aus wechselnder Ich-Perspektive erzählt. Dabei bleibt die Sprache in ihrer poetischen Intensität aber überpersonal. Die Sprache trägt die Figuren. Das ist etwas anderes als wörtliche Rede oder innerer Monolog. Es gibt auch durchgestrichene Worte im Text, die spüren lassen, wie um den richtigen Ausdruck oder um das Sprechen überhaupt gerungen werden musste. Jedem Kapitel sind kurze lyrische Passagen vorangestellt, die vor allem aus Leerstellen bestehen und noch keine Syntax haben, Wortgewebe, so durchscheinend wie abgewetzte Teppiche.
Ulrike Draesner gibt den "Verwandelten" eine Stimme
In seiner Konzentration auf starke Frauen und in seiner sprachlichen Intensität erinnert "Die Verwandelten" an frühe Romane von Kathrin Schmidt, in der Verschränkung deutscher und polnischer Vergangenheit und in der kunstvollen Einbindung schlesischer Sprechweisen zugleich auch an Günter Grass.
Ulrike Draesner gibt den "Verwandelten" eine Stimme und holt sie damit aus dem Schweigen heraus, das ihnen das Überleben sicherte. Welche Spuren die Gewalterfahrungen hinterlassen, wie man sich darin einrichtet, und welche Auswirkungen das auf die folgenden Generationen hat, ist ihr eigentliches Thema. Ihre Kunst besteht darin, nicht die Gewaltakte selbst darzustellen, um sie nicht erzählerisch und voyeuristisch zu reproduzieren, sondern zu zeigen, wie sie weiterwirken. "Gewalt, das waren nicht allein die Taten", schreibt sie in diesem eindrucksvollen Werk. "Gewaltsam war auch das Danach – was fehlte. Ein langer Verlust: Wie jemand zwar noch lebte, aber nicht mehr wuchs."
Jörg Magenau, rbbKultur