A. L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land © Hanser Verlag
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Roman - A. L. Kennedy: "Als lebten wir in einem barmherzigen Land"

Bewertung:

Am Anfang des neuen Romans von A. L. Kennedy steht eine Begegnung. Die Erzählerin Anna trifft Buster, 25 Jahre nachdem sie gemeinsam in den 80er Jahren mit einer Gruppe von Straßenkünstlern in Edinburgh demonstrieren gingen. Anna nannte sich damals "The Amazing Annanka Ladystrong", hat mittlerweile einen Sohn und arbeitet als Grundschullehrerin. Inzwischen ist auch klar: Buster war damals ein V-Mann der Behörden ...

Von dieser Begegnung aus entfaltet A. L. Kennedy mit zahlreichen Rückblenden die Geschichte Annas und auch die von Buster. Der Roman ist in zwei Stimmen geschrieben, immer wieder tauchen Passagen aus der Sicht Busters auf.

Gemeinschaftsarbeit

Das korrespondiert mit der Übersetzung: "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" ist eine Gemeinschaftsarbeit von Ingo Herzke und Susanne Höbel. Susanne Höbel, die u.a. Graham Swift und John Updike übersetzt hat, hat die immer wieder eingeschobenen Berichte des V-Mannes ins Deutsche übertragen. Und Ingo Herzke, der A.L. Kennedy seit Jahren kennt und übersetzt, hat die Schilderungen der Grundschullehrerin Anna übernommen. Eine beeindruckende Stimme, diese Grundschullehrerin, die versucht, ihre Fünftklässler trotz des Lockdowns zu unterrichten, dabei als Erzählerin eine wilde Geschichte nach der anderen aus ihrer Vergangenheit auspackt und niemals ihre Erzählhoheit aufgibt.

Für Kennedy, die auch als Stand Up-Comedian auf der Bühne stand, spielt das Performative wie gewohnt eine große Rolle. Der Übersetzer Ingo Herzke erzählt in seinem mit Susanne Höbel gemeinsam verfassten Werkstattbericht auf den Webseiten des Übersetzerprogramms Toledo, dass er von A. L. Kennedy gelernt habe, dass der "Ton, der Rhythmus und die Musikalität" für sie immer im Vordergrund stehen. Und dass sie sich gewünscht habe, dass er sich auch bei der Übersetzung immer für den Klang entscheiden solle, wenn er "zwischen 'richtiger' Bedeutung und 'richtigem' Klang" entscheiden müsse.

Zu kritisch für England?

Dieser Roman klingt und tönt auf jeder Seite. Unfassbar, dass das englische Original, "Alive in the merciful country" noch keinen englischen Verlag gefunden hat. Die deutsche Ausgabe ist dieses Mal die Weltpremiere: In England gibt es bisher weder einen Termin noch einen Verlag.

Die Autorin erklärt es so, dass der Roman zu kritisch sei. Zum Beispiel, wenn es um das Treffen der G7 2015 in Gleneagles in Schottland geht und A. L. Kennedy vom brutalen Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten berichtet. Oder wenn sie den VE-Day, den Victory in Europe Day beschreibt und kommentiert, es gehe vor allem darum, "schmerzfrei über die Weltgeschichte nachzudenken".

Was sagt das aber über die Medienlandschaft eines Landes aus, wenn solche Analysen nicht gedruckt werden und die Stimme einer bekannten, geschätzten Autorin nur im deutschen Exil erscheinen darf?

Ein kluges und hochpolitisches Buch

Abgesehen davon, dass "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" ein starker, spannender, unterhaltsamer, kluger Roman ist, mit hochlebendigen, ambivalenten A. L. Kennedy-Figuren, ist damit nicht nur der Inhalt dieses Buches hochpolitisch, sondern auch seine Publikationsgeschichte. Es bleibt stark zu hoffen, dass sich die englische Verlagslandschaft besinnt und die glasklaren Analysen dieser kühnen Autorin auch in ihrer Originalsprache gelesen werden können.

Anne-Dore Krohn, rbbKultur