Bestandskatalog - "Alte Nationalgalerie. Kunst im langen 19. Jahrhundert"
Werke von Caspar David Friedrich, Adolph Menzel, Max Liebermann, Claude Monet oder Paula Modersohn-Becker: Die Alte Nationalgalerie in Berlin verfügt über eine der bedeutendsten Sammlungen zur Kunst des 19. Jahrhunderts in Deutschland – die man in komprimierter Form jetzt auch nach Hause mitnehmen kann: Der in überarbeiteter Form neu herausgegebene Bestandskatalog verzeichnet über 600 Kunstwerke – längst nicht die gesamte Sammlung, aber doch mehr, als in der Dauerausstellung zu sehen sind.
Natürlich ist dieser Band kein Ersatz für einen Museumsbesuch. Die räumliche Wirkung einer Skulptur, die Details eines Gemäldes können die relativ kleinen Abbildungen nicht enthüllen. Selbst ein Monumentalgemälde wie Adolph Menzels "Eisenwalzwerk" kommt über Postkartengröße nicht hinaus. Doch bietet die relative Gleichmacherei der Formate – große Werke werden unverhältnismäßig klein, kleine unverhältnismäßig groß wiedergegeben – gerade den Kleinen die Chance, eher wahrgenommen zu werden als im Ausstellungssaal, wo sie von großen und daher auffälligeren Werken "überschattet" werden.
Mehr Überblick
Größter Vorzug dieses geradlinig aufgemachten Bestandskatalogs ist der Überblick über die Sammlung, den er sehr viel bequemer ermöglicht, als ein tatsächlicher Besuch im Museum. Beim Blättern erweitert sich fast zwangsläufig der Horizont, denn man stößt ganz mühelos auf Werke, von denen man bislang nichts wußte oder für die man sich nicht zu interessieren glaubte. Vieles erweist sich dabei als sehenswert, wofür man die langen Distanzen im Museum, von einem kunsthistorischen Abschnitt zum nächsten, kaum zurückgelegt hätte.
Angesichts der Vielfalt an Stilen und "Schulen" erschließt sich auf Anhieb auch der Untertitel "Kunst im langen 19. Jahrhundert". Denn die Sammlung enthält sowohl Werke, die noch Ende des 18. Jahrhunderts entstanden sind - Anton Graffs Porträts von Intellektuellen und bürgerlichen Protagonisten der Aufklärung z.B., die bereits auf das kommende "bürgerliche Jahrhundert" verweisen (dem die Alte Nationalgalerie in der Schenkung des Bankiers Wagener auch ihren Grundstock verdankt).
Und auch der Übergang zum 20. Jahrhundert gestaltet sich fließend, wenn beispielsweise Paula Modersohn-Becker Bilder malt, in denen Anklänge an Jugendstil und Symbolismus sich mit einer Expressivität verbinden, die im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts erst richtig Schule machen wird. Weil der Katalog – anders als die Dauerausstellung – nicht nach Stilen, sondern alphabetisch nach Künstlerinnen und Künstlern geordnet ist, springt diese Spannbreite von rück- bis vorwärtsweisend gelegentlich direkt auf einer Doppelseite ins Auge.
Kunstgeschichte mit Geschichten
Zu jedem Künstler, jeder Künstlerin enthält der Band eine kurze Biografie, zu jedem abgebildeten Werk einen mal kürzeren, mal längeren Text, der Entstehungsumstände erläutert und manchmal auch eine kleine Anekdote enthält. So erfährt man über ein kurioses Hundebildnis von Wilhelm Trübner aus dem Jahr 1877, das eine aufrecht sitzende Dogge zeigt, über deren Schnauze eine Kette aus Würsten baumelt, dass der Maler tatsächlich eine Dogge hatte, die ihm in dieser Pose brav Modell saß – bis er kurz weg mußte, weil es an der Tür geklopft hatte. Als der Maler zurückkam, saß der Hund noch genauso da - nur ohne die Würste.
Neue Fährten
Die Sammlung im Buchformat bietet größtmögliche Freiheit. Man kann nach Gusto Querverbindungen ziehen bzw. entdecken – z.B. zwischen einem kleinen Stillleben von Paul Signac, "Buch und Orangen" von 1883, und einem haargleich komponierten, mit genau solchen Falten im Tischtuch gemalten Stilleben von Paula Modersohn-Becker, das 20 Jahre später entstand. Durch einfaches Hin- und Herblättern werden Vergleiche möglich, entstehen neue Fährten durch die Kunstgeschichte, ensteht bisweilen Erkenntnis und in jedem Fall großes Vergnügen.
Silke Hennig, rbbKultur